Ein Konzertbericht und ein Tipp für den 2. Weihnachtstag:
Les Négresses Vertes und das Doppel von der Insel, Stiff Little Fingers und New Model Army im Kölner Palladium und The four Murders in Neheim

Zum Konzertbericht von Christopher kann ich meine alten Alben aus DM-Zeiten beisteuern. (foto: zoom)

Der Schalldruck der Bässe stimmte im Palladium zu Köln letzten Samstag von Beginn an, das Ambiente in der seit gut 20 Jahren zur Eventkultur umfunktionierten Industriehalle im neuen Kreativviertel Carlswerk in Köln-Mülheim ebenfalls. – Drei Bands stiegen im Laufe des Abends in den Ring: Die französischen Les Négresses Vertes und das Doppel von der Insel, Stiff Little Fingers und New Model Army.

Für Abwechslung und doch eine durchgängige Linie war gesorgt. Die Straßenmusikanten-Einlagen a la stilisierte Clowneskerien der Musiker von Les Négresses Vertes durchbrach das folgende monochromatische Pathos der Nordiren und Briten. Mehrmals featureten beide Bands von der Insel den Brexit vor dem ein oder anderen Lied an, um auf die Aktualität mancher Songs hinzuweisen bzw. auf die den Brexit befördernden Unterhauswahlen vom 12.12. (also drei Tage vor dem Konzert). Freilich erinnerten beide Bands an die unheimliche Aktualität der Sorgen um einen Nordirlandkonflikt bei Songs aus den 1980er Jahren.

Überhaupt schien am Abend zweierlei Mentalität auf, die beide auf unbehagliche Weise gleichzeitig modern sind: So angenehm Pose und Ironie der Franzosen postmodern zu konsumieren waren, so beschlich einen ein unangenehmes Gefühl bei der Zeitgemäßheit des Punkrock-Pathos von Stiff Little Fingers und noch mehr bei der Agonie von New Model Army. In den besten Momenten wirkte der Punkrock frisch und geradlinig pazifistisch wie in „Wasted Life“. Wenn doch ein überspanntes Pathos misstönte, dann beglaubigte es die neue apokalyptische Gesellschaftsvision kommender Zeiten im Zeichen des Klimawandels – ganz gemäß der „Fridays for future“-Angst: „No future!“

Musikalisch gibt es auf dem derzeitigen Oldie-Markt der Musik sicherlich Anspruchsvolleres im Genre Punkrock/ Post Punk/ New Wave zu hören, wie etwa The Cure. Aber für einen unterhaltsamen Abend taugen die Bands der ersten Stunde in ihrem Genre sicherlich. Insofern ist die Altherren-Rechthaberei, die sich in manchen Song-Ansagen mitteilte, dass man es schon damals – in den 1980er Jahren – immer gesagt habe, verzeihlich: Sinngemäß habe man nämlich gesagt, dass Amerikanismus (New Model Army „51th state“) und Kapitalismus (expansiver Konsumismus, die Grenzen des Wachstums und das Elitenprojekt eines Main-Stream-Militarismus für Wirtschaftsinteressen*) unser Zeitalter beschleunigt besiegeln werden.

(* Vgl. sinngemäß H. Köhler, Bundespräsident A.D. 2010 im Interview mit „Deutschlandfunk Kultur“: „Ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit“ müsse wissen, dass im Notfall „auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern.“)

Verjüngt also unsere Zeit die Songs, so steht es um die Bandmitglieder nicht anders: Die eigentlich nicht mehr taufrischen Bands traten erstaunlich jugendlich auf (und nicht nur, weil manches jugendliche Bandmitglied zu New Model Army gestoßen ist) – Kompliment, gut gehalten! Das galt auch fürs Publikum, dessen Schnitt bei 50+ lag.

Wer übrigens frisch gebliebene Musik eines längst vergangenen Jahrzehnt aus der Sauerländer Heimat zwischen den Jahren hören möchte, finde sich in der Musikkneipe „Pro-Bier’s“ (dem früheren „Bei Pichel“) in Neheim (Goethestr. 44) am 2. Weihnachtstag ein: Die überregional bekannte Band „The four Murders“ (*), ursprünglich aus Neheim-Hüsten der 1980er Jahre, spielt zu einem wiederholten Revival auf. Danach gibt’s Musik zum Tanzen aus dem Genre Punkrock/ Post Punk/ New Wave/ NDW von versierten DJs aus der Neheimer Kulturszene. Es lohnt sich garantiert!

(* https://www.sauerlandkurier.de/hochsauerlandkreis/arnsberg/murders-zurueck-buehne-5757075.html.)

Update

Leserzuschrift:

„Meines Wissens spielen „4 Murders“ am 27.12.2019 in der ehrenamtlich geführten KulturKneipe „Der Golem“ (Neheim, Lange Wende 30).
http://dergolem.de/
hier Golem-Flyer: http://59609431.swh.strato-hosting.eu/veranstaltungen/
Und ja, es ist eine ziemlich vertrackte Geschichte mit „Pichel“, „Pengel Anton“ und „Pro Biers“:

Im heutigen „Golem“ war vor Dekaden sowohl „Pichel“, „Pengel Anton“ und „Tacheles“ angesiedelt.
„Pichel“ zog Ende der 1980er in die Goethestraße 44 um … – um 1994 rum erfolgte Umbenennung in „Pro Biers““

California here I come: Der XII. und letzte Teil des Reiseberichts. Santa Mónica

Unser Autor berichtet von seiner Fahrt durch Kalifornien. Auf der letzten Etappe seiner Reise besucht er die Villa Aurora, den Zufluchtsort deutscher Literaten und Philosophen während der Nazi-Diktatur.
 

Auf der Suche nach Miramar, dem Asyl der deutschen Exilantengemeinde

Morgens ging der Bus im Zehnminutentakt den Hollywood Boulevard westwärts an den Strand des Pazifiks. Keiner der Einheimischen kennt natürlich den Treffpunkt deutscher Exilierter vor und während des 2. Weltkriegs, und so muss man sich am Straßennamen der Homepage der Villa Aurora orientieren: Miramar, Meeresblick, was darauf schließen lässt, dass das Asyl der deutschen Exilantengemeinde sich nahe am Strand befindet. Und tatsächlich kann man von der letzten Tankstelle direkt an der Kreuzung vorm Strand, wo die Buslinie endet, in 20 Min. den Hügel hinaufsteigen, wo die Villa Aurora liegt, die dem jüdischen Emigrantenehepaar Feuchtwanger gehörte.

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Strandpromenade im nördlichen Santa Monica (fotos: weber)

Deutsch- Amerikanischer Kulturaustausch unterwegs

Auf dem Weg dorthin unterhielt ich mich ich an der Bushaltestelle mit einem älteren Schwarzen, den ich nach dem Weg fragte. Nachdem ich erklärt hatte, was die Villa Aurora sei, entspann sich ein Gespräch um Vietnam, obwohl heutigentags in Kalifornien das Problem weniger die Asiaten als vielmehr die Mexikaner seien, weil die sich ungehemmt fortpflanzen und so in Zukunft die Mehrheitsgesellschaft bilden würden.

Er habe in Vietnam gekämpft und viele Kameraden dort sterben sehen. Es seien viele Kriegsverbrechen begangen worden und er, der ehemalige Vietnamkämpfer, assoziierte mit den US-Kriegsverbrechen die Verbrechen wider die Menschlichkeit in Nazideutschland, wo 15 Mill. Juden in den Konzentrationslagern umgebracht worden wären. Ich entgegnete, die Geschichtsforschung in Deutschland gehe von 6,2 Mill. ermordeten Juden aus. Nein, es seien 15 Mill., eher mehr gewesen; er habe darüber neulich erst eine Dokumentation gesehen und ich als Angehöriger der jungen Generation solle mich besser informieren.

Andere Länder, andere Sitten: Ungewohnt in den USA ist doch immer wieder diese erstaunliche Mischung aus Xenophobie und selbstkritischer Haltung. Man merkt, dass die geschichtliche Diskussion in den USA nicht derart diskursivisiert und damit ideologisch begradigt und auf den Nenner gebracht ist wie in Deutschland, wo beipielsweise mit der Bundeszentrale für politische Bildung gar ein staatliches Institut für eine offizielle Geschichtsschreibung nach dem Rückfall in die Barbarei gegründet wurde.

Außerdem merkt man, wie zwischen den Zeilen immer ‚mal wieder mitschwingt, dass Deutschland wie eine Art demokratisches, überhaupt kulturelles Entwicklungsland angesehen wird, dem die US-Amerikaner Kultur gebracht hätten. Wie unterschiedlich ist doch das Selbst- und Fremdbild, und vielleicht ist es zur Völkerverständigung besser, dass wir beide von Alteuropa sprechen, womit aber der US-Amerikaner mit Dick Cheney das des Kalten Kriegs meinen und wir unser Alteuropa, als einige Protestanten infolge des englischen Bürgerkriegs mit der May Flower ins gelobte Land aufbrachen. Man möchte sich im Urlaub auf dem Weg zur Villa Aurora nur ungern streiten.

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Die Villa Aurora

Die Villa Aurora heute

Heutzutage restauriert eine Kulturstiftung aus Berlin, eben Villa Aurora genannt, dieses Kleinod am Pazifik, mit dem Goethe-Institut in L.A. kooperierend und mit der University of California/ Los Angeles sowie mit dem Konsulat der deutschen Botschaft. Im Haus leben drei bis vier Künstler und Schriftsteller, die zumeist selbst aus ihren Heimatländern fliehen mussten. Ein Stipendium gewährt ihnen einen viertel- bis halbjährigen unbeschwerten Aufenthalt für die für Kunst dringend benötigte Muße.

Das Interior ist belassen oder i.S. des ursprünglichen Ambientes rekonstruiert: Unter dem Wohnzimmerboden verlaufen zum andern Raumende die Schallrohre der Orgel, mit der die Feuchtwangers Gästen aufspielten, um die gezeigten Stummfilme zu orchestrieren. Im Wohnzimmer, im Esszimmer, im Arbeitszimmer befinden sich rund 20.000 Bände der von Lion Feuchtwanger in den Vereinigten Staaten wieder aufgebauten Bibliothek der Weltliteratur.

Hakenkreuze im Lüftungsschacht

Im Esszimmer ragte vom Regal in den Durchgang ein wahrer Schinken Goya; ihm gegenüber an der Wand unten im Regal sah man den Beginn eines Lüftungsschachtes, in dem auch Heizungsamaturen hervorlugten und dessen Gitterform ein Hakenkreuz war: eines links herum, wie aus der Zeit der nationalsozialistischen Bewegung bis 1934 und eines rechts herum, wie die Welt es danach in Erinnerung behielt. Erst wusste ich nicht, ob die Schachtabdeckung zufällig dieses Ornament angenommen hat. Aber durch Zeit und Ort und die Urlaubsatmosphäre so sehr vom Hitler-Deutschland getrennt, merkt man erst nach einiger Verunsicherung, wie schwer von Begriff man zuweilen ist.

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Im Esszimmer: sattsam bekannte Ornamente vor dem Abzugsschacht

Die Sache mit Feuchtwanger

Eine nettes Ritual, das die Germanistikstudentin erklärte, die mir die Villa und ihre Zeit kompetent nahe gebracht hatte, bestand darin, dass man statt eines Eintritts Geld zum Wiederaufbau der Villa zum Kulturort spenden solle, wofür man sich aus dem Eingangsregal einen Einband Feuchtwanger noch aus den Beständen des Berliner Aufbauverlags zu DDR-Zeiten mitnehmen durfte.

Ich musste der Germanistikstudentin gestehen, dass ich noch nichts von Feuchtwanger gelesen habe; sie ihrerseits konnte mir keinen Band empfehlen, da sie gerade erst begonnen habe, intensiv Feuchtwanger zu lesen. So rätselten wir also vor den Titeln, und ich entschied mich für Goya – wahrlich ein stilistisches und auch philosophisches Lesevergnügen dieses nach dem Krieg meistgelesenen deutschen Autoren, der in meiner Generation leider untergegangen ist. Aber er wird nur in meiner Generation mehr oder weniger untergehen, denn gute Weltliteratur hat Muße und kann auf die Rezeption künftiger Generationen bauen.

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Der Germanist und die deutsche Literatur

Ich hoffe, mein literarischen Urteil hat keine gönnerhaften, unfreiwillig komödiantischen Züge, über die sich Adorno bei jenem Deutschlehrer belustigte, der Nietzsche gelobte habe, weil der ein stilistisch so gutes Deutsch geschrieben hätte. Aber in unseren heutigen Zeiten hat sich zum Glück die Hoch- der Unterhaltungskultur angenähert, sodass die subjektive Rezeption ihr Eigenrecht jenseits der Standards des universitären Bildungsbürgertums hat, das seit je eifersüchtig über seine Pfründe der richtigen Exegese wacht, um den Zugang zu den Bildungspatenten zu monopolisieren, mit dem es sich von den anderen Schichten der Gesellschaft differenzieren kann.

In der Villa Aurora traf sich einst der Höhenkamm der deutschen Literatur und Philosophie, etwa Thomas Mann, Ernst Bloch, die Mitglieder des Frankfurter Instituts für Sozialforschung wie Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Erich Fromm sowie Maler und bildende Künstler. Sie alle hatten es geschafft, vor der Verfolgung durch den Nationalsozialismus und europäischen Faschismus nach Übersee zu fliehen, und gingen hier ihrer jeweiligen Arbeit weiter nach. „California here I come: Der XII. und letzte Teil des Reiseberichts. Santa Mónica“ weiterlesen

California here I come: Reisebericht Teil XI – Los Angeles, Teil 3. Die Antwort lautet weder L. A. noch ’42‘, sondern Dortmund-Nord.

 

Unser Autor berichtet von seiner Fahrt durch Kalifornien. Heute streift er durch einige Museen von  Los Angeles und beantwortet die Frage: Dortmund-Nord oder L.A.?

Museum of the West

Am letzten Tag meines Aufenthalts spazierte ich Meile um Meile zum Zoo, dem gegenüber das Museum of the West lockt. Ein schönes Museum, das den Wilden Westen und seine Eroberung thematisiert. Es gibt Originalbüchsen und Revolver von Buffalo Bill und Billy the Kid und Wyatt Earp – und all jenen Western-Helden? Das Kind in jedem Manne fühlt sich an selige Sonntagnachmittage mit Westernfilmen und Karl May-Schinken erinnert.

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Wandbild der Hollywoodgrößen beim Hollywood Boulevard (alle fotos: christopher)

Höhepunkt der Ausstellung ist ein chronologischer Gang durch das Westerngenre im Film und die Originalkostüme der Revolverhelden bis hin zu „Brokeback Mountain“, in dem schwule Cowboys eine Liebesromanze in der rauhen Natur der Rocky Mountains Colorados durchleben dürfen. Das Ausstellungskonzept will die Mythisierung des Wilden Westens durch den Film durchbrechen, ebenso durch die Ausstellung von Tagebüchern, die einen guten Eindruck vom Selbstbild und den Impressionen der ersten weißen Siedler im Westen geben.

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Im Museum of the West

Ausstellungsdidaktik von 1950

Aber dem kritischen Citoyen fällt auf, dass den Genozid an den American Natives so gut wie gar nicht vorkommt: Nur der Schlacht am Little Bighorn von 1876, in der Häuptling Sitting Bull, Crazy Horse und Big Foot das 7. Kavallerieregiment unter General G.A. Custer besiegte, wird gedacht; Custer habe laut Museumstafel recht eigenmächtig, auch befehlswidrig gehandelt. Von den systematisch staatlich geschaffenen und gesellschaftlich getragenen Strukturen des Genozids abgelenkt, der hier zu einer Westernschlacht verharmlost wird, welche in der Darstellung des Museums unterschwellig vermittelt, dass die Indianer sie wegen unkooperativen Verhaltens im Grunde genommen auch mitverschuldet hätten, erinnert das Museum an europäische Kolonialmuseen ohne kritische Aufarbeitung der Ausstellungsdidaktik, also an 1950.

Es scheint, als sei konsensfähig, dass das Museum den heiklen Teil der Geschichte des Umgangs mit den Ureinwohnern eher verschleiere als offenlege, was in einem demokratischen und zivilisierten Land, das ja Wortführer der Werte der westlichen Welt sein will, eigentlich ein Skandal ist, aber nicht weiter verwundert, wenn man bedenkt, dass z.B. die Atombombentests der 1950er Jahre in der Nähe von Indianerreservaten in New Mexico und v.a. Nevada durchgeführt wurden.

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Heroisierendes Wandgemälde im Westernmuseum

Die Antwort lautet weder L. A. noch ’42‘, sondern Dortmund-Nord.

Und wo bleibt das Positive? Was ich ganz vergaß: ein wirklich nicht-provinzielles, kosmopolitisches Museen hat L.A. mit dem LACMA (Los Angeles County Museum of Modern Art) dann doch, aber die Kardinalfrage des Lebens, wo man leben möchte, muss ich so beantworten: dann doch lieber Dortmund-Nord.

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Eingang zum Los Angeles County Museum of Modern Art (LACMA)

California here I come: Reisebericht Teil X – Los Angeles, Teil 2

Unser Autor berichtet von seiner Fahrt durch Kalifornien. Heute streift Christopher  zu Fuß und mit der Metro durch die Autostadt Los Angeles. Über seine sehr persönlichen Eindrücke berichtet er hier.

Bei Wanderungen durch die Stadt von vier, fünf Stunden hätte ich die Menschen, denen ich auf den Bürgersteigen begegnete und die verstohlen herüberlugten, an der Hand mitzählen können.

 

Ein Artikel im „Spiegel“, der sich 1982 mit der Innenstadtgestaltung L.A.s befasste, sprach noch von der gegenteiligen Hoffnung der Stadtplaner:

„[Bunker Hill, downtown L.A.] soll Los Angeles endlich jene Silhouette verleihen, die von den Skyline-besessenen Amerikanern an dem Häuserteppich so schmerzlich vermißt wird. Sie soll aber auch noch etwas anderes bringen, was es in diesem Drive-in-Dschungel bislang so gut wie nicht gab: Fußgänger-Bereiche.“ (aus dem Spiegel Nr. 52, 36. Jg., 27.12.1982, Karl-Heinz Krüger: Städtebau, S. 114-119)

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Bunker Hill in Downtown Los Angeles (alle fotos: christopher)

Stets allein in einer Millionenstadt

So etwas wie Bunker Hill Downtown habe ich persönlich noch nie gesehen, und wer weiß, vielleicht gibt es so etwas erst wieder in Omsk in Sibirien. Im Zentrum des L.A.-Ballungsgebiets muss wohl der Kern der Anti-Materie sein, um welche die Physiker so trefflich streiten. Denn auch auf meinen Urlaubsfotos sind in der Stadtmitte dieser sogenannten Megacity keine drei Menschen zugleich drauf; es ist unheimlich; man ist stets allein und doch im Bewusstsein, dass dies eine Mehr-Millionenstadt sein soll. Aber hier liegt der Denkfehler: L.A. ist halt eine Agglomeration aus hundert Dörfern und keine Stadt.

Der Fußgänger, das fremde Wesen

Im Nachruf zu den Planungen zur Belebung des öffentlichen Raums in den 1980er Jahren muss man feststellen, dass es jetzt Bürgersteige und eine Minicity auf Bunker Hill für Fußgänger gibt; dort, wo auch das Stadtmuseum oder die neue Philharmonie vom Architekten Frank Ghery hinbetoniert wurde. Aber es gibt keine Fußgänger. Als Fußgänger ist man in L.A. suspekt, etwas Fremdes, deshalb toleriert Sittenloses, solange es fremd bleibt.

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Zentrumsplatz mit sozialistischem Wohnschick – „Suchbild Mensch“ in der Zehnmillionenmetropole an einem Werktag

L.A. zwischen deutscher Provinz und sozialistischem Plattenbau

Vielleicht sollte man auch erwähnen, dass die Häuser um den einfallslos hochgepäppelten Platz auf Bunker Hill an deutsche Kleinstädte nach der Entkernung der 1960er Jahre erinnern, nachdem das deutsche Wirtschaftswunder zu viel Geld in die kommunalen Kassen geschwemmt hatte, um das, was der Krieg von den Altstädten noch übrig gelassen hatte, zu sanieren und damit vollends zu zerstören.

So strahlt auch Bunker Hill etwas von einer Eisdiele Rio Alto vor bronzener Sprengelanlage, also Brunnen des örtlichen Provinzkünstlers ab, leicht süßsaurer, katholischer Hauch.

Oder aber L.A. will sich konsequent mondän geben und heraus kommen Plattenbauten, die man aus dem real existierenden Sozialismus kennt. Selten hat es der Städtebau so auf die Spitze des schlechten und wohl auch verzweifelten Geschmacks getrieben. Ich habe immer die Behauptung vertreten, dass so hässlich wie im Sozialismus sonst nirgendwo Städtebau getrieben worden wäre, aber hier komme ich ins Zweifeln. Der Spiegelautor Karl-Heinz Krüger fasste sein ästhetisches Gefühl 1982 in folgende Worte:

„Tatsächlich hat die Downtown von Los Angeles bislang nicht viel zu bieten. Das Sammelsurium der ersten neuen Wolkenkratzer ist weder für die Baukunst noch für das Stadtbild ein Gewinn. Die hohen Hülsen stehen fremd und verschlossen am Straßenrand, das spiegelgläserne fünfzylindrige Bonaventure Hotel erhebt sich über einem hohen Betonsockel, der so einladend wirkt wie ein Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg.“

Innenstadt als großer städtebaulicher Murks

Dies Gefühl, eigentlich in einer Ruine des öffentlichen Raums angekommen zu sein, pflanzt sich im großen Unbehagen unter den Menschen fort. Stets hat man das Gefühl, eigentlich nicht wohin, also zum Ziel, sondern nur ziellos weg zu wollen. Die Innenstadt ist großer städtebaulicher Murks, und deshalb will niemand freiwillig ins Zentrum, das nachts zudem, weil ausgestorben, zu allem Überfluss gefährlich wird.

Schon tagsüber bestimmen auf den paar öffentlichen Plätzen verwahrloste Obdachlose das Stadtbild und ihr Gebettel das Sozialklima. Man fragt sich, wie es eigentlich die Angelinos in ihrer Stadt auf Dauer so aushalten, die dem Touristen aus andern Weltteilen leicht als dreckiger Witz der Postmoderne vorkommen mag. Ästhetische Genusswerte kann man in dieser selten geschichts- und gesichtslosen Stadt keine konsumieren, nur Smog, dumm-aggressive Sprüche und Fastfood.

Das Ruhrgebiet kann man wenigstens mögen

Wie wohltuend ist noch jede Stadt der Ruhrgebiets-Agglomeration dagegen, wo jede Ecke lebt, jeder Kiez seinen eigenen Sound spricht. Zwar ist es wahrlich kein Vergnügen, eher ein echtes Abenteuer durch Zeit und Raum, Menschen, Länder, Abenteuer, früh Abends die 120 km S-Bahn von Düsseldorf nach Unna zu nehmen. Ein echt „assiges“ Erlebnis der schlimmsten Sorte erwartet einen – der lieben betrunkenen Pöbler wegen, dann ist da der Schienenersatzverkehr, der zuweilen geschlagene 2 Stunden durch das südlich angrenzende Tal der Wupper kurvt, um von Bochum nach Dortmund zu kommen, sodass man als Tourist garantiert nie wieder das Ruhrgebiet betritt – aber jede Ecke atmet autochthon und authentisch. Man muss es wohl mögen, aber man kann, und das ist der Unterschied zu L.A.

Auf der Flucht

Zimmernachbarn in meiner Unterkunft wurden rasch vom L.A.-Syndrom befallen und begannen regelmäßig nach einem einzigen Tag über die Stadt zu klagen, am zweiten Tag äußerten sie beklemmende, klaustrophobische Vorstellungen und dass sie wegwollten und nur hier wären wegen des nicht umbuchbaren Flugs, dass sie sich deprimiert fühlten beim Gedanken, morgen noch einmal einen ganzen Tag in dieser Stadt verbringen zu müssen – danach wälzte einjeder intensiver den Stadtführer, um den Notausgang zu finden, oder ging zwecks Realitätsflucht verschärft ins Kino

Die Stadt Los Angeles wird oft von Soziologen hermeneutisch zerlegt, um stadtsoziologische Expertisen á la Experiment der Postmodernität an den Mann zu bringen. Das Problem ist, dass die Stadt schlicht langweilig ist und im Grunde genommen mausetot. Deshalb ja auch der Glanz der Filmindustrie, damit überhaupt etwas los ist. Hier tut der schöne Schein Bitternot, der ein Drittel des Aufkommens der städtischen Volkswirtschaft in die wirtschaftlichen Kapillaren pumpt.

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„Whisky a go go“ – legendäre Bar des Musik-Showbiz

‚So alone‘

Am vorletzten Tag ging ich vom Walk of Fame, dem proletaroiden Abschnitt des gefeierten Hollywood Boulevards hinunter zum Whisky a go go, wo The Doors einen ihrer ersten Auftritte hatten und Jim Morrison offenbar das Dilemma in L.A. Woman besang, dass, wie man es auch macht, mit oder ohne Auto, man es in dieser Stadt nur falsch anpacken kann:

Drivin‘ down your freeways
Midnite alleys roam
Cops in cars, the topless bars
Never saw a woman…
So alone, so alone
So alone, so alone

Mit der Metro in die falsche Richtung
Es ist schon eine seelenlose Veranstaltung mit L.A. Nachts fühlt man sich auf den Straßen nicht sicher, Sperrstunde der Freiheit, und tagsüber darf man mit der Metro auch nicht in die falschen Viertel wie South Central Los Angeles fahren. Dort war ich am zweiten Tag unterwegs. Jedoch häufte sich von Station zu Station das jugendliche Gangunwesen aufdringlicher und aggressiver Schwarzer mit einem lautstarken Gehabe wie aus dem ortsüblichen Gangsterfilm, sodass ich lieber schnellstmöglich abgedreht habe, zumal ich, je tiefer in die Vororte fahrend, als einziges Bleichgesicht im Waggon saß und unangenehm angeglotzt wurde. Weiter fuhren nur muslimische Proselytenmacher, die den Koran unters Volk bringen wollten. Inschallah und Gott sei mit ihnen!

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South Central Los Angeles – heimeliges Viertel, netter Ausblick!

Verbrechen und Glamour

Abends dann erlebte ich auch prompt die erste Schießerei in meinem Leben. Der Seitenflügel der Herberge ging zu einem Parkplatz hinaus, woneben sich eine alt-eingesessene Diskothek befand, der gegenüber eine neue Bar an diesem Abend eröffnet hat. Der Türsteher der alten Bar muss im Laufe des Abends dem Türsteher der neuen Bar den Platzhirschen gegeben und sich infolgedessen mit ihm überworfen haben, sodass der eine Gorilla dem andern in den Arm schoss. Peng! – Die Nacht zuvor hatte unweit am Boulevard bereits eine Bar eröffnet und man sah, wie in einer Traube von Journalisten Brad Pitt die Bar verließ. – Also kann man sich als Tourist nicht beschweren, nicht das zu bekommen, was der Blockbuster verspricht: Verbrechen und Glamour, ein bisschen Glanz:

„Und damit wurde aus diesen Straßenzügen im Westen von Los Angeles „Hollywood“, das universelle Codewort für die Macht schöner Lügen, für eine Bildsprache, die noch in Karatschi und in Wladiwostok verstanden wird, für großes Gefühl und noch größere Geschäfte. Hollywood sei eigentlich [kein Ort … sondern eine Geisteshaltung] … Mag die Supermacht des Westens auch wanken, diese Kulturleistung wird bleiben: So, wie uns die griechische Antike die Tragödie gegeben hat und das römische Imperium das Recht, so wird von Amerika Hollywood bleiben, und das ist nur ein anderes Wort dafür, dass sich das Leben in einen anrührenden oder optischen Traum verwandeln lässt. … Bilder strömen, täglich, stündlich, wie Erdöl aus einem leckgeschlagenen Bohrloch, hartnäckig, unaufhörlich, ist das gifitg? Wir sind dabei, uns in voralphabetisierte Zeiten zurückzubewegen, in denen die Magie von Bildern und Zeichen gilt und sonst nichts. Wir werden nicht dümmer, aber zunehmend hypnotisierter von unseren erfundenen Legenden, die sich über die Wirklichkeit stülpen … [Zu Beginn] handelte es sich um eine andere, neue „Manifest Destiny“: Die Eroberung des Westens war abgeschlossen, nun sollte die Eroberung der Träume beginnen.“ (Matthias Matussek: Im Kino gewesen. Geweint, in: Der Spiegel 1/2011, 3.1.2011, S. 100 -108)

Hollywood als Soft Power

Ob wir nicht dümmer werden? Wer mag das kollektiv entscheiden können. Aber der Kulturphilosoph Theodor W. Adorno zumindest gab zu, dass die affirmativen Schnulzen der Kulturindustrie seiner Zeit, welche die gesellschaftspolitischen Verhältnissen zur schönen heilen Welt fabulierten, ihn dümmer gemacht hätten. Und in Ermangelung eines modernen Siegfried Kracauers, der die autoritativen Sehnsüchte und Träume des deutschen Publikums analysiert hatte, das damals in der Weimarer Republik vom rechtskonservativen, kaisertreuen Hugenberg-Imperium und der UFA (Universum Film AG) bedient worden war, müssen wir uns bescheiden und es bei der offiziellen Meinung zu Hollywood aus US-Regierungskreisen bewenden lassen, wonach Hollywood und seine miteinander verflochtenen Konzernkartelle in Nachfolge von Paramount (1912), Universal (1912), MGM (1924), Disney, Dreamworks, Miramax, und wie sie alle heißen, eine Soft Power zur Eroberung der Herzen und Gehirne sei, um ihnen den American Dream und American Way of Life einzuimpfen.

California here I come: Reisebericht Teil IX – Los Angeles, Teil 1

Unser Autor berichtet von seiner Fahrt durch Kalifornien. Heute streift er mit öffentlichen Verkehrsmitteln und zu Fuß durch die Straßen von  Los Angeles.

Zum ersten Mal begegnete ich L.A. zufällig, einige Tage zuvor, auf meinem Weg vom Joshua Tree Park nach Westen, als ich Santa Barbara besuchen wollte, da ich dort die „Villa Aurora“ des Emigranten Lionel Feuchtwanger aus dem Gedächtnis vermutete. Mein Gedächtnis trog und war mit Santa Monica über Kreuz gegangen, weshalb ich weiter nach Norden die Big Sur hochzog.

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Downtown Los Angeles, einmal vorteilhaft erwischt (fotos: christopher weber)

Bei der Anfahrt nach L.A. vor vier Tagen, um es zu umrunden, verpasste ich die Abfahrt, folgte dem Schild nach Hollywood und aus dem strömenden Regen über dem Stau schälte sich schemenhaft ein nächtliches Downtown L.A. heraus.

Es sieht nichtssagend aus
Erst einmal glaubt man gar nicht, dort zu sein, worum so viele Träume kreisen, nachdem die US-Amerikaner die Herzen der westlichen Welt mit ihrer Filmindustrie erobert haben. Denn es sieht nichtssagend aus; man fasst gar nicht, im Zentrum einer Stadt mit zehn Millionen und mehr Einwohnern zu sein, sondern verortet sich auf dem Ruhrschnellweg bei Duisburg.

Wolfgang Emmerichs apokalyptischem Drama
Perplex lugt man hinüber zum Turm und ja, jetzt erkennt man ihn aus Wolfgang Emmerichs apokalyptischem Drama, in dem Wirbelstürme diesen Bankenturm mit dem rot-blauen Logo der American Bank auf Bunker Hill Downtown hinweggefegt haben. Ansonsten sieht man nicht viel mehr als ein typisches Autobahnkreuz tief im Westen im Ruhrgebiet, aber ohne viel Kultur oder etwa Tradition wie in Alteuropa, ne?, wie es das hier halt im Westen der USA nicht gibt, is‘ ja alles „Cultureless West“.

William S. Burroughs‘ „Naked Lunch“
Die zweite Begegnung mit LA geschah am hellichten Tag. Am 6. Januar entstieg ich an der Union Square Station dem Greyhound Bus von Bakersfield kommend, nachdem ich geschlagene fünf Stunden seit Reiseantritt mit der Eisenbahn AMTRAK von Merced aus William S. Burroughs‘ „Naked Lunch“ gelesen hatte. Nach der üblen Lektüre benebelt und betäubt, taumelte ich aus der Bustür Richtung Gepäckausgabe und erkannte meine Tasche eine geraume Weile nicht wieder, so offensichtlich hatte der Lesestoff angeschlagen.

Hochhäuser Marke Duisburg
Nach einem gemeinsamen Gelächter mit dem Busfahrer, der mir sagte, ich wäre ja ein alter Mann, schulterte ich die Tasche und schlenderte aus dem Busbahnhof in den Bahnhof von Eisenbahn und Metro und von dort zum Hauptausgang. Die Plaza davor sah nett lateinamerikanisch aus, dahinter diese Versammlung einiger Hochhäuser Marke Duisburg und … sonst nichts weiter. Daraufhin zog ich es vor, die U-Bahn zu besuchen und mich standesgemäß in Hollywood einzuquartieren.

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Jeder in den 1970er Jahren sanierte Buchstabe kostete privat gespendete 28.000 US-Dollar

Hollywood am gleichbenamten Boulevard mischt das Amsterdamer Rotlichtviertel mit einer lichterfunkelnden Mall und ist so interessant wie die Oberhausener Eventmeile „Centro“. Wer’s mag, kommt auf seine Kosten. Im Großen und Ganzen ist der Boulevard, wo im Kodak Theatre jährlich im März die Oscars vergeben werden und das auf altägyptisch getrimmt ist, ziemlich heruntergekommen so wie in Essen hinterm Europaplatz die Fortsetzung der Fußgängerzone mit anderen Mitteln, nämlich mit Kiff-Shops, Tattoo-Bude und Hundekacke statt Kunst und Kommerz.

Der letzte Fußgänger
Der Weg von dort, wo der Boulevard beginnt, nämlich vom Westrand der Innenstadt, oder was man so dafür hält, nach Hollywood spricht Bände, wenn man ihn per pedes zurücklegt: Auf einem der eigentlich berühmtesten Straßen der USA begegnet man keinem, keinem einzigen Passanten. Man ist allein, während im Minutentakt ‚mal ein Auto gemächlich vorbeirollt.

Die perfekte Kleingartenschreberkolonie und Christa Wolf
Alles erinnert stark an eine Kleinstadt, die dabei ist einzuschlafen. Die einstöckigen Häuser davor wiederum geben die perfekte Kleingartenschreberkolonie ab. Die war mir bereits in manchen Gangsterfilmen über South Central Los Angeles, dort an Originalschauplätzen aufgenommen, aufgefallen und bestätigte sich hier auf überraschende Weise. Leider wohl vergaß ich den Schutz geistigen Erzeugnisses anzumelden. Ein Kollege aus Los Angeles, der gerade Christa Wolfs neuen Roman „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“ (2010) gelesen hatte, schaute mich an jenem Abend im Fischrestaurant in San José/ Costa Rica erstaunt an, nachdem ich ihm gesagt hatte, noch nicht in L.A. gewesen zu sein, mir die Stadt aber wie eine überdimensionierte Kleingartenschreberkolonie vorstelle. Diese Metapher habe eben Christa Wolf in ihrem neuen Roman gebraucht, ob ich sie von dort zitiert habe, was ich wahrheitsgemäß verneinte – den Roman werde ich wohl bald lesen; er solle meinem Kollegen nach ganz gut sein.

L.A. wird auch mit zunehmender Dauer des Umherirrens nirgends anders, ein Siedlungsbrei ohne Kopf, eine Ausgeburt von Autoparkplatz im Ambiente des Kleinstadtindustrieviertels. Schon bei der Einfahrt nach L.A., als ich mit benommenem Kopf in den gesundheitspädagogischen Ausführungen zum Richtungen Heroinentzug gemäß Burroughs herumschaukelte, fielen diese grün-wuchernden und recht großzügig bebauten Hügel auf, die sich von Nordwesten nach Süden zur Innenstadt hin ziehen. Flach ist auch dort das Stadtbild und erinnert eben an die Kleingartenkolonie am Tegeler Damm in Berlin oder natürlich an die in Bochum-Süd. – „Junge, Junge!“

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Los Angeles Innenstadt nach Osten gesehen

Und das hier ist das Paradies eines jeden Ami-Traums. Dieser Eindruck, dass L.A. im Prinzip zu großflächig angelegt wurde, bestätigt sich in Folge des Aufenthalts auf Schritt und Tritt. Während der Lateinamerikaner es geballt und gewuselt bevorzugt – so verlassen etwa Argentiniens Hauptstädter, die Porteños, Buenos Aires nur dann, wenn sie alle in der Ferienzeit im Januar zusammen zum Strand vierhundert Kilometer weiter östlich nach La Plata fahren, wo sie sich dann ölsardinengleich am Strand gestapelt erholen; oder so kommt der mexikanische Hauptstädter, der Chilango, in den Schluchten von Mexiko-Stadt offenbar ohne motorisiertes Bad in der Menge, also Stau und Verkehrsinfarkt, gar nicht zurecht – während also die Ballung zur Masse in Lateinamerika die Menschen zum öffentlichen Glück berauscht, ist es hier die kühle Distanz des Garten-, gar Jägerzauns seiner Kleingartenschreberkolonie.

California here I come: Reisebericht Teil VIII – Joshua Tree und Big Sur

Unser Autor berichtet von seiner Fahrt durch Kalifornien. Heute geht es weiter durch den Joshua Tree Park und die Pazifikküste entlang in Richtung Monterey. Doch, Christopher hat auch die Stadt der Engel besucht. Ein ausführlicher Bericht aus Los Angeles  folgt in Kürze.

Joshua Tree

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Palmen, genannt Joshua Tree (fotos: christopher weber)

Auf der Fahrt zum Joshua Tree Park spielte das Radio zweimal U2-Hits von 1987, „Where the streets have no name“ und „I still haven’t found what I’m looking for“, immerhin. Ansonsten hat weder die Landschaft noch der Menschenschlag noch die Politik viel mit Irlands saftigen Weiden und knorrigen, traditionsverbundenen Menschen zu schaffen, wie sie H. Böll im „Irischen Tagebuch“ beschreibt, oder der unseligen Geschichte des britischen Kolonialismus und des IRA-Terrorismus zu tun, außer vielleicht dass Arnold Schwarzenegger, weil er kalifornischer Gouverneur und Hollywoodstar ist, auch wie U2 der Popkultur entstammt.

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Das Tal vom Joshua Tree Park

Der Joshua Tree Park ist skurril. Wie der Name besagt, ist die Hauptattraktion diese durch Siedler einer protestantischen Sekte angepflanzte Palmenart, eben der biblisch benannte Joshua Tree, der bizarr mit seinen Ästen Raum greift. Diese Palmen stehen in einem weiten Tal, das viele verschiedene Steinschichtungen und Steintempel für den Touristen bereithält. Die US-Amerikaner lieben ja das Freiklettern an senkrechten Felswänden wie im Hidden Valley und von diesem Extremsport profitiert der Nationalpark ganz ungemein.

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Die San Andreas Spalte

Von Ryan Mountain (1664m) aus kann man hoch über dem Tal die wunderschöne Aussicht genießen und wenn man das Tal durchquert hat, steht man auf der anderseitigen Anhöhe der Little San Berardino Mountains auf Keys View (1581m), unter welcher das gewaltige Tal der Sankt Andreas-Falte auf Meereshöhe verläuft. Jedes Jahr driftet hier das übrigbleibende schmale Stückchen von West-Kalifornien westlich der Falte mit der pazifischen Kontinentalplatte 5m weiter in den Pazifik weiter ‚gen Westen, wohingegen es den US-amerikanischen Kontinent nach Osten zieht.

Big Sur

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Typische Küstenlandschaft am Pazifik

Big Sur heißt die Küstenstraße, die sich von Santa Mónica nach Norden schlängelt, Richtung San Francisco, und recht gut das Lebensgefühl der Red Hot Chili Peppers zu bebildern scheint. Die pazifische Serpentine ist schön zu fahren und gewährt von etwa 100 bis 300m Höhe spektakuläre Ausblicke auf die Küstenlinie mit ihren steilabfallenden Hängen der nahebei stehenden Berge, die zum Strand hin ausrollen.

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Pazifikstrand

Es ist im eigentlichen Sinn keine Steilküste, wie sie bei der Panamericana Sur ab der chilenischen Atacama-Wüste bis hinunter nach Santigao de Chile zu finden ist, wo das Gelb der Wüste wunderschön dem Azurblau des Ozeans konstrastiert. Dafür aber taucht die langsam untergehende, vergleichsweise nördliche und deshalb schief einstrahlende Sonne die Umgebung in ein weiches Licht, in ein seltsam strahlendes Grün der Flechten, in bordeaux-rotes Büschelmoos an den Hängen.

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Ein romantischer Sonnenuntergang am Pazifik (gerade ohne Sonne)

Die Big Sur endet bei Monterey, einer schmucken, hübschen Kleinstadt, deren Attraktion das Monterey Bay Aquarium ist. Für Familien sicherlich ein Muss, da die Ausstellung v.a. didaktisch für Kinder aufbereitet ist. Dadurch allerdings wirken manche Säle z.B. zur menschen-mitverursachten Klimaerwärmung eher penetrant wie von Greenpeace gestaltet als von einem privat-kommerziellen Anbieter zum Vergnügen des zahlenden Publikums. Man fühlt sich jedenfalls belehrt, wenn man das Aquarium verlässt. Dafür entschädigt ein ästhetisches Gegengewicht zum Biologieunterricht mit der Gallerie, wo asiatische, feuerspeiende Seedrachen, bunt-glitzernde Quallen und possierliche Seepferdchen in den Aquarien schweben – wirklich eine schöne andere Welt.

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Chinesischer Seedrache im Aquarium

California here I come: Reisebericht Teil VII – Death Valley Part Two

Unser Autor berichtet von seiner Fahrt durch Kalifornien. Heute geht es weiter durchs Death Valley, das Tal des Todes, wie immer mit vielen Gedanken, die übrigens jedem Enthusiasten in den Weiten des US-amerikanischen Westens einfach zufliegen. Die zahlreichen Fotos im heutigen Bericht sind der einzigartigen Landschaft geschuldet.

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Blick in das nördliche Death Valley (fotos: weber)

Das Leben ist ein Kreis. Von wo immer aus man startet, doch zieht es einen wie einen Verbrecher wieder an den ursprünglichen Tatort zurück. Im Tal des langgestreckten, nach Süden hin versinkenden Death Valley, das abschüssig und in sich zum Horizont wie eine schiefe Ebene gedreht ist, befindet sich eine Oase, in der sich salzresistente Süßwasserfische finden sollen. Sobald das Death Valley von Regen heimgesucht wird, was natürlich selten der Fall ist, überschwemmen von einem nördlich des Tals verlaufenen Fluss periodische Lachen auch das Death Valley, sodass diese besagten Fische einwandern können, die es hier sogar in der sommerlichen Bratpfanne, in die sich das Tal verwandelt, aushalten können. Dem geübten Biologenblick erschließen sich laut Hinweisschildern zig Faunaarten, die sich hier spezialisierten und adinierten.

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Das südliche Death Valley

Jenseits des Salzsees, der bei Bad Water 88m unter NN hinabfällt, was in der westlichen Hemisphäre der tiefste Punkt sein soll, wie Schilder dort stolz verkünden, befindet sich am südlich erschlossenen Rand des Tals die Durchfahrt durch den Kessel, der am berühmten Zabriskie Point vorbeiführt, der zum Spielort des mythischen Ziels eines gleichnamigen Road Movies der 1960er Jahre wurde. Eine verwunschene Landschaft mit den dunkelgelb bis ockerfarbenen Sandsteinhügeln tut sich auf, die einer Grattage Max Ernsts gleichkommen.

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Das südliche Death Valley

Ein letzter Blick ins Tal gewährt Dante’s View. Auch dieser Aussichtspunkt beweist ein ums andre Mal, wie begeistert im Grunde genommen die Namensgeber fürs Diabolische waren. Die Geier fehlten am Zabriskie Point. Das Unheimliche des Orts hat sich jedoch für uns Autoreisende ins Seltsame verkehrt, weil wir die Natur im Durchmessen des Raums beherrschen und das Klima des Tals für uns keine Gefahr mehr darstellt, wie für den Trapper vergangener Zeiten, der sich ins Tal verirrt hat, um dort an Hitzeschlag zu sterben, da im Innern im Sommer Temperaturen bis zu 54 Grad Celsius gemessen wurden.

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Blick auf die Death Valley Bergkette von Dante’s View

Nun man nach Westen dem weißen Mittelstreifen folgt, erscheint am Horizont der Ebene ein monumentaler Bergrücken, abgeschnitten von den rings umgebenden schokoladenbraunen Kordilleren, der in der Weite der abfallenden Ebene unverrückt im Raum wie eine riesige Raupe zu schweben scheint und sich stetig vergrößert, auch weil man genau drauf zurollt.

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Die „Raupe“ im östlichen Nachbartal des Death Valley

Anscheinend hat ein surrealistischer Künstler hier im Nirwana sein Ready Made abgestellt, um den Raumsinn zu kitzeln. Dahinter springen irgendwo weiße Kordilleren zur Untermalung des heroischen Gesamteindrucks in die Höhe.

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Blick von Ost nach West über das Death Valley auf die Sierra Nevada (im Hintergrund)

California here I come: Reisebericht Teil VI – Death Valley Part One

Unser Autor berichtet von seiner Fahrt durch Kalifornien. Heute geht es durchs Death Valley, das Tal des Todes, wie immer mit vielen Gedanken, die übrigens jedem Enthusiasten in den Weiten des US-amerikanischen Westens einfach zufliegen. Tipp: selber ausprobieren.
Blick auf die Bergkette im Westen. Dahinter beginnt das Death Valley. (fotos: weber)
Blick auf die Bergkette im Westen. Dahinter beginnt das Death Valley (fotos: weber)

Hinter Low Pine biegt die Straße quer zum Längstal ab und zielt in der Diagonalen südlich, wo die Hügel einen Einschnitt setzen, der den Zugang zum Nachbartal des Death Valley eröffnet. Death Valley ist eines von vielen Tälern, die im südlichen Kalifornien der Sant Andreas-Graben gerissen und zusammen- und hochgestaucht hat, aber es steht mit seinem mystischen Namen für die grandiose Landschaft, die sich einem bereits bei der Einfahrt von Norden her anbietet.

Beim Durchqueren des Nachbartals passiert man eine endlos erscheinende, schnurstracks auf die Westflanke des Death Valley zulaufende Straße, die tiefer und tiefer von der Passhöhe hinabrollt, bis auf dem Grund dieses Tals auch ein Wüstenstreifen zu durchqueren ist. Sobald man die Westflanke mit spektakulären Serpentinen erklommen hat, kann man von oben weit in den Westen schauen und die weiße Sierra Nevada mächtig aufragen sehen. Im Osten erheben sich ebensolche Drei- bis Viertausender weiß am Horizont. Der Kontrast von weiß zum Schokoladenbraun der Berge umher nimmt sich interessant aus, zumal wenn die Weite des Death Valley nach Norden sich entspannt, nachdem die Schussfahrt zum Talboden begonnen hat. Die Einfahrt ins Tal gibt atemberaubende Aussichten preis und ist die Reise sicherlich wert; ständig möchte man aussteigen, um noch und noch ein Foto zu schießen.

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Das Nachbartal des Death Valley

Im Nachbartal des Death Valley
Weit geschwungen treten die das Tal flankierenden Berge zurück und man ahnt, wie verheerend es gewesen sein muss hier mit letzten Kräften und ohne Wasser unterwegs gewesen zu sein. Im Winter stieg die Temperatur im Tal auf 20 Grad an; im Sommer soll es eine schmorende Hölle sein.

Einfahrt vom westlichen Pass ins nördliche Death Valley
Auf halbem Weg bei der Umrundung der nach Norden hin vorgelagerten Felsnasen kann man bei Sanddünen stoppen, in denen auch eine Szene des „Doors“-Film von Oliver Stone (1992) spielt. Tatsächlich wirkt die Szenerie bizarr und unwirklich, wenn man in den Dünen herumkrabbelt, als sei man bei Bordeaux auf einer kleineren Dune du Pilar an der französischen Atlantikküste, während der Ausblick ins Tal fantastisch ist: braune Bergrücken, weiß gepuderte Kordilleren an den Spitzen. Von einem Schau-Ins-Land, dem Aussichtspunkt San Antonio, kann man den herben Charme dieser seltsamen, dieser entrückt anmutenden Landschaft wohl am besten genießen: Vor einem springt das Tal in die Tiefe, dahinter weitet es sich bis zur Ferne der Berge des Talkessels, darüber steigen im zweiten oder dritten Paralleltal die weißen Ketten anderer Bergmassive und beiseite zieht sich die Nord-Süd-Achse des Death Valley mit den paar aus der Kargheit des Raumgebildes hervorstechenden, unterscheidbaren, dann eben auch touristischen Anlaufpunkten.

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Die Dünen im nördlichen Death Valley

Die Dünen im nördlichen Death Valley
Es ist ein der Zivilisation enthobener Ort, damit tendenziell mystisch und spukig, wovon die religiöse, protestantische Namensgebung für bestimmte Anlaufpunkte im Tal zeugt und welche Aura ihm dann die Popkultur der Hippies gegeben hat. So liegt etwa neben den Dünen das so getaufte „Devil’s Cornfield“, wohl wegen der seltsamen Kakteen, die mitten im salzigen Wüstenboden wachsen. Death Valley ist und bleibt eine Erfahrung des Fremden, deren Stachel allerdings zu brechen droht, indem die popkulturelle Auratisierung und der Massentourismus sie allzu leicht komensurabel zum Massenkonsum zurichtet – in den USA muss alles konsumierbar sein, sonst ist es wertlos. – Und nur breite und weite Täler ohne Glanz? Die gibt es in ganz anderen Raum-, v.a. Höhendimensionen in Südamerika in sagenhafter Hülle und Fülle, nämlich bei La Paz im 250 km breiten Hochgebirge der Anden. Die aber sind von den Bilderwelten des Kinos bisher noch unberührt geblieben.

Death Valley vom Ausgangspunkt San Antonio
Death Valley vom Ausgangspunkt San Antonio

California here I come: Reisebericht Teil V – vom Mammoth Lake zur Sierra Nevada nach Low Pine und zum Death Valley.

Unser Autor berichtet von seiner Fahrt durch Kalifornien. Seine Betrachtungen veröffentlichen wir hier. Heute geht es durch die Sierra Nevada, wie immer mit vielen Gedanken, die übrigens jedem Enthusiasten in den Weiten des US-amerikanischen Westens einfach zufliegen. Tipp: selber ausprobieren.

Wintermärchen am Lake Mary. (fotos: weber)
Wintermärchen am Lake Mary. (fotos: weber)

Endlich am Mammoth Lake
Spät nachts kam ich endlich in Mammoth Lake an. Mammoth Lake ist der Inbegriff des Skigebiets in der östlichen Sierra Nevada und besticht durch Aussichten wie aus dem Prospekt: Graue Bergketten, die unterm Schnee versinken; die Loipen führen um vereiste Gletscherseen wie die Twin Lakes oder Lake Mary herum unter schattigen, vor Eisstarre knisternden Nadelhölzern. Vom azurblauen Himmel scheint eine milde Wintersonne vor Senkrecht aufragenden Feldwänden und felsigen Kuppen und Graten. Wahrlich eine Winteridylle, die sich einem hier auftut, wenngleich der Ort touristisch überlaufen erscheint.

Schau-Ins-Land bei Mammoth Lake
Schau-Ins-Land bei Mammoth Lake

McCarthy und die deutsche Immigration
Jeder Besucher aus den großen Städten der Ostküste versicherte mir, nur weg zu wollen von den Massen, die hier um den Lift, dort vorm Bus anständen. Der Tourist mag seinesgleichen wohl nirgends. Einer aus Boston meinte, als das Thema auf die deutschen Exilierten während des Hitlerismus fiel, für sie US-Amerikaner wären eh nur Nazis gekommen. Daraufhin meinte ich, dass vor allem Sozialdemokraten in die USA exiliert seien, da der McCarthy-Ausschuss für „unamerikanische Umtriebe“ die Kommunisten abgeschreckt oder so schikaniert hätte, dass sie lieber freiwillig nach Mexiko unter dem liberalen PRI-Präsidenten Cardenal Carranza geflohen wären. Ein beistehender Snowboarder aus San Diego meinte kleinlaut und zerknirscht, sodass man sich selbst schlecht fühlte, man lebe halt im „Cultureless West“. Der Bostoner baute seinen Landsmann auf: Na ja, man wolle nicht streiten, in Boston gäbe es alles, viele Museen, an der Ostküste gäbe es alles.

Blick in die Ferne über Mammoth Lake auf die Sierra Nevada
Blick in die Ferne über Mammoth Lake auf die Sierra Nevada

Die Landschaft – bizarr und mächtig
Die Weiterfahrt entlang der Sierra Nevada entblättert die ganze Naturschönheit der Landschaft, die durch ihre Bizarrerie bezaubert, durch die sie den Blick verfremdet und dadurch fasziniert. Seltsam ist die Anmutung eher als überwältigend, was in Südamerika wegen der aufschießenden Höhe und ausrollenden Breite der Berge der Fall ist. Eher schlägt eine Mischung aus Menschenfremdheit und Erhabenheit in den Bann als eine rauhe, schroffe und rohe Natur anderer, gewaltigerer Bergwelten Südamerikas. Bizarr, auch ‚mal mächtig, wirkt die Landschaft und wo die Berge an Höhe gewinnen durchaus auch prächtig, aber mit Maßen. Verschwendet hat sich die Natur hier vor allem in die Weite der Täler und ausschwingenden Abhänge der Anhöhen.

Unterwegs zur Sierra Nevada
Unterwegs zur Sierra Nevada

Ungleichzeitigkeiten: Schnee und Wüste
Während die schokoladenbrauen Hügelspitzen linker Hand verpudert eingeschneit waren und die Sierra Nevada auf der andern Seite des Tals weiß erstrahlte, schoss die Landstraße hinab in die schief zwischen Himmel und Erde sich windende Senke, in der die Temperaturen unwirklich frühlingshaft anstiegen. Nach einer dreiviertel Stunde Fahrt wechselte man von einem Klima von 3 bis 4 Meter hohem Schnee zur Wüstenlandschaft an einem lauen Sommertag. Die Täler östlich der Sierra Nevada gehen unglaublich in die Breite, wobei der bezaubernde Anblick der Berge stets mit ihrer Wildheit lockt. Hier gehen Kinderträume, gespeist von den seligen Stunden der Lektüre Karl Mays, in Erfüllung. Man meint am Horizont hoch oben in den Bergen John Wayne, Erol Flynn, Geary Cooper, James Steward, Kirk Douglas oder Clint Eastwood reiten zu sehen und hört die Filmmelodien für Millionen, jene berauschenden, anschwellenden Akkorde mit Obertönen aus zig Western, die gleich einem Wellengang branden, just dann, wann die Bergszenerien und Landschaftspanoramen eingeblendet werden.

weiterhin unterwegs zur Sierra Nevada
weiterhin unterwegs zur Sierra Nevada

Hier nächtigten John Wayne und Erol Flynn
Nach einer gemächlichen Fahrt immer ‚gen Süden kommt der Reitende, pardon Reisende, irgendwann nach Low Pine, einem in den Fassaden der Hauptstraße nachempfundenden Westernnest, in dessen Grand Hotel eben John Wayne und Erol Flynn in den 1950er Jahren zu Drehs in den Bergen nächtigten. Nun große Teile der Filmindustrie des Konkurrenzkampfs wegen aus New York nach Los Angeles seit 30 Jahren übergesiedelt waren, zog es die Kamerateams zur hohen Zeit des Westerns in die nahen Berge, wo die Stars ihre Triumphe in den 1950er und 60er Jahren feierten. In Low Pine schmeckt das ortsübliche Steak saftig, das Bier ist kühl und herb, das Frühstück ist deftig und hält bis zum Abend vor – und Revolverhelden habe ich keine gesehen.

Die Sierra Nevada bei Low Pine
Die Sierra Nevada bei Low Pine

Mt. Whitney – 4421 Meter über NN
Die Bergkulisse um Low Pine bietet wohl auch den höchsten Berg in den kontinental-zusammenhängenden USA (außer Alaska), den Mt. Whitney, der sich aber aus dem Talgrund wohl nur 1828m erhebt, weshalb er die Bergkette um Low Pine kaum überragt, obwohl er über NN 4421m aufsteigt. Überhaupt ist die Landschaft mehr durch ihre behäbige Breite als Höhe charakterisiert, wie ja insgesamt der nordamerikanische Kontinent sehr in der Erstreckunng auseinandergeht.

Sierra Nevada (im Hintergrund) vom Death Valley aus gesehen.
Sierra Nevada (im Hintergrund) vom Death Valley aus gesehen.

California here I come: Reisebericht Teil IV – Gedanken auf dem Weg zum Mammoth Lake

Unser Autor war auf  Tour. Diesmal in Kalifornien. Seine Betrachtungen über Kalifornien veröffentlichen wir unter der Kategorie „Kalifornien“. Die winterliche Fahrt zum Mammoth Lake verführte Christopher zu allerlei Gedanken über die Rolle der USA auf der Weltbühne der Politik. Wer sich nicht anstrengen will, sollte dieses Kapitel der Reise tunlichst nicht lesen. Alle anderen sind zu Widerspruch, Zustimmung  oder stillem Lesen eingeladen.

29.12. und 30.12. 2010 zwischen den Jahren: Mammoth Lake

Die projektierte kurze Fahrt von Merced nach Mammoth Lake entwickelt sich mit zunehmender Dauer zum Abenteuer, denn die Pässe der Sierra Nevada sind just zwischen den Jahren, an diesem Tag, von einem Schneesturm heimgesucht worden. Zum Teil liegt der Schnee fünf Meter hoch, sodass selbst mit Schneeketten an kein Durchkommen zu denken ist.

Unterwegs mit Schneeketten.
Unterwegs mit Schneeketten.

Schneeketten und Umwege
Nachdem der erste Versuch der Passüberwindung gescheitert ist, kaufte ich nach gutgemeintem Ratschlag beim Kaffee im nächstbesten Kleinindustriezentrum vor den Toren der Stadt Schneeketten und setzte die Fahrt nach Norden fort. Man sagte, im Notfall müsse man bis nach Reno in Nevada fahren, also einmal um die Höhen der Bergkette herum, um dann wieder nach Süden zu cruisen. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach sei der nächste nördliche Pass frei. Das war nicht der Fall und so ging es bei Radiounterhaltung stundenlang gen Norden.

Aus dem angepeilten Sommerurlaub im Golden State wurde ein osteuropäischer Winter.
Aus dem angepeilten Sommerurlaub im Golden State wurde ein osteuropäischer Winter.

Die US-amerikanischen Medien und der Krieg
Das Radio wie das Fernsehen vermitteln einem oft ein Amerika, das leider das Bild der Gesellschaft im Ausland bestimmt: Denn zum Großteil wird dort über das politische Establishment berichtet und das führt zum Leidwesen vieler Nationen in mehreren Ländern derzeit einen noch von George W. Bush ausgerufenen „War on Terrorism“. In den politischen Diskussionen des Radios fällt einem jedenfalls der ungemein kriegerische, ja militaristische Ton auf, indem allen Ernstes z.B. abgewogen wird, ob es besser sei, mit China zu kooperieren oder es militärisch zu bekriegen. Dabei belebte besonders die durch zugeschaltete Zuhörer bereicherte Diskussion die Frage, ob man diesen Krieg mit konventionellen, biologischen oder atomaren Waffen führen solle. Man meint, seinen Ohren nicht recht trauen zu können, zumindest wenn man aus Europa kommt. Man meint erst, man habe sich verhört oder es wäre ein Hörspiel gewesen in der Machart Stanley Kubricks „Dr. Seltsam, oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben“, in dem die Kalten Krieger der McCarthy-Ära herumpoltern, so etwa wie es die Realitätstäuschung gab, als H.G. Wells „Krieg der Welten“ ausgestrahlt wurde.

Der militärisch-industrielle Komplex
Aber es ist auch eine Realität im Lande, dass der ‚militärisch-industrielle Komplex’, wie ihn W.D. Eisenhower in den 1950er Jahren taufte und vor dessen politischer Macht er eindringlich im Falle des Koreakrieges warnte, offenbar seine Claqueure in einflussreichen, öffentlichkeitswirksamen Institutionen positionieren kann.

Die Plutoktatie hat die Medienmacht
Im Friscoer „Green Tortoise“ war man sich bei politischen Diskussionen Recht schnell einig, dass George W. Bush kein bedauerlicher Wahlfehler war, sondern die empirischen Verfassungsverhältnisse der Realität widerspiegelt. So herrsche in den USA eine Plutokratie, deren politischer Führungszirkel die Medienmacht besäße, den politischen Willen großer Teile des Volks zu manipulieren, was an die „Pressur group theory“ der 1960er Jahre erinnert, wonach die aktiven Gruppen in der Gesellschaft in den Städten wegen der Trägheit der großen Masse mehr Chancen zur Durchsetzung ihres Willen, also politische Macht, hat als eben die passive Masse, die keine Themen setzt.

So manipulierte der Bush-Clan seit Jahr und Tag, da ihm einflussreiche Fernsehsender zu Großteilen gehörten, was an das politisch heruntergekommene Italien Berlusconis anklingt. Zur Fatalität gerate das politische Desinteresse des inneren Amerikas zwischen den Küsten und des Bible Belts im Süden, da Bush und Co. in Washington mit der Rüstungsindustrie verschwägert wären, wie der Durchschnittsamerikaner in San Francisco meint.

Die kriegerische Nation: von der Monroe-Doktrin zur systemkonfrontativen Weltmachtpolitik
Die an Krieg gewöhnte und auch kriegerische Nation, muss man wohl sagen, kennt den Krieg nicht als Ultima Ratio der Politik, sondern scheint alteuropäisch in Jean Bodins Glauben an den gerechten Krieg und frühmodern (bis zum 1. Weltkrieg) an den Krieg als verlängertes Mittel der Politik verfangen zu sein, bei dem der Zweck die Mittel heiligt. Gar nicht erst seitdem Bush dem „War on Terrorism“ einen Kreuzzugscharakter gegen die Moslems gab, sondern von Beginn des 20. Jhs. an, nachdem der Aufstieg der USA zur Weltmacht besiegelt war: Die USA waren immer weniger der Monroe-Doktrin gefolgt, hatten sich stattdessen zur Franklin D. Roosevelt-Politik der Einmischungsstrategie durchgerungen, zunächst nur verschwiemelt in der Wirtschaftspolitik. Bald schon verteidigten sie dann offen die demokratischen Werte im faschistischen Europa und bekannten sich, einmal in den Sog des Kalten Kriegs gezogen, zur imperialistischen, zumal systemkonfrontativen Weltmachtpolitik.

Der Krieg und die Umverteilung der Steuergelder
Dagegen, gegen diese imperiale Rom-Attitüde der politischen Kreise scheinen Vernunftgründe seit je vergeblich, wo doch allgemein bekannt ist, dass es in einem Staat keine größere Verschwendung des Volksvermögens gibt als die Rüstungsausgaben. Wie aus dem Lehrbuch der Politikwissenschaft führte die Regierung unter G.W. Bush vor, wie unter der Schürung eines Bedrohungsgefühls eine Umverteilung der Steuergelder von unten nach oben, in die Kassen eben besagten militärisch-industriellen Komplexes stattgefunden hat.

Nur sehr wenige profitieren nämlich von Rüstungsgütern, die im Gegensatz zum Staatsinterventionismus nach John Maynard Keynes in die Infrastruktur den lokalen Wirtschaftsbranchen verzögert zu Gute kommt und sich schließlich in den blühenden Landschaften des öffentlichen Raums materialisiert, den alle Staatsbürger genießen können, sei es in Bibliotheken, Schwimmbädern, schönen Innenstadtplätzen, Straßenbeleuchtungen etc.pp.

Der Konsum von Rüstungsausgaben besteht im großen Morden
Der Konsum von Rüstungsausgaben hingegen besteht im großen Morden in Weltteilen, von denen in Amerika der Großteil so wie Bush in einem Auftritt in einer TV-Show nach den Anschlägen vom 11.9.2001 nicht anzugeben wüsste, wo sie auf der Weltkarte überhaupt liegen; im Falle Bushs war es Afghanistan, dem er gerade den Krieg erklärt hatte. Unproduktive Rüstungsausgaben aber, wofür aus der Staatsverschuldung verzinste Staatsanleihen aufgenommen werden müssen und dem öffentlichen Sektor Steuergelder entzogen werden, führen zur Inflation und damit zur Schädigung der Volkswirtschaft bis hin zum Kollaps. Mit zunehmender Staatsverschuldung für Kriegszwecke steigt der Druck, den Geldmengenumlauf durch Geldnachdruck der Notenbank anzuheben, um so die verschwendeten Milliarden wieder in den zivilen Sektor zurückzugeben, und damit entsteht eine Inflation. So ist es kein Zufall, dass die Weltwirtschaftskrise 2008 einer bis dahin in einem demokratischen, modernen Staat beispiellosen Verschwendung öffentlicher Mittel für kriegsvorbereitende Zwecke folgte, der Aufrüstung für zwei Irakkriege und einen in Afghanistan.

Vom Krieg zur Weltwirtschaftskrise
Zwar mag die 2008er Weltwirtschaftskrise auf der Oberfläche durch private Überschuldung und ungedeckte Kreditvergabe, durch Börsenspekulationen, dem ganzen Klein-Klein des Fachchinesisch wie der „moralisch“ verpönten Geldvernichtung durch Hedge-Fonds, aber vor allem dem schieren Volumen des Börsenkapitals, das sich von dem Realwert der Wirtschaft losgelöst hatte, ausgelöst worden sein – soweit die bürgerlichen Medien. Aber die Mentalität, alles auf ungedeckten Pump zu kaufen, eben auch die die Krise auslösenden Immobilien, ist staatlicherseits angeheizt worden, um die Inflation, die durch die Staatsverschuldung ausgelöst worden war, durch stetes Wirtschaftswachstum infolge steigenden Massenkonsums zu kompensieren.

Die aktuelle Wirtschaftsideologie des Massenkonsumismus und damit hoher Steuereinnahmen wurzelt wiederum in ungebrochen immensen Ausgaben fürs Militär, die Rekordmarken unter dem schauspielernden Präsidenten Ronald Reagan erreichten. Zuletzt wurden sie in Friedenszeiten prozentual wohl nur im absolutistischen Frankreich des Sonnenkönigs Ludwig XIV. im 17. Jh. übertroffen, wo damals über Jahrzehnte hinweg ca. die Hälfte des Staatshaushalts in das neu eingerichtete stehende Heer investiert wurde.

Die Reagan-Regierung hob die Rüstungsausgaben in den 1980er Jahren auf über 250 Mrd. US-Dollar kontinuierlich an, um den Ostblock totzurüsten, was ja dann mit dem wirtschaftlichen Kollaps der Sowjetunion 1991 gelang, die zuletzt bis auf 200 Mrd. US-Dollar Rüstungsausgaben mitzog. Die Nachfolgeregierungen unter George Bush, Bill Clinton und George W. Bush froren die Rüstungsausgaben sodann nicht etwa ein, sondern erhöhten sie auf 400-500 Mrd. US-Dollar pro Jahr.

Im Vergleich zu den europäischen Mittelstaaten, die etwa 40 bis 50 Mrd. US-Dollar pro Staat (ca. 15-20% des jährlichen Staatshaushaltes) für ihre Rüstung ausgeben, mutet dieses amerikanische Projekt wie ein Rausch in Größenwahn an, ein neues imperiales Rom.

Krieg: die Lüge verschafft sich subjektiv in den Bedrohungsgefühlen ihre eigene Realität
Vor Augen halten muss sich dabei immer wieder, dass dieses Land nie Krieg auf eigenem Boden geführt hat und das es nie durch seine Nachbarn auf dem eigenen Kontinent bedroht wurde. Im Gegenteil haben die US-Amerikaner den Mexikaner 1854 die halbe Landfläche abgepresst und so viel Elend nach Lateinamerika des 20. Jhs. exportiert. Die Bedrohungsfantasien, zu deren Züchtung und Verbreitung sich die US-Gesellschaft eigene Ministerien wie das Department of Homeland Security 2002 aufgebaut hat, scheinen wie eine schizophrene Abspaltung des schlechten Gewissens, weil sie kaum vollständig verdrängen kann, dass sie lügt, weil es keine Feinde gibt, außer die, die sie sich durch ihre eigene Feindseligkeit herangezüchtet hat. Nun diktiert unterbewusst als Schutzmechanismus das schlechte Gewissen, man solle an die eigene Lüge auch konsequent glauben, nicht nur um vor sich selbst aufrichtig dazustehen, sondern auch weil der Schaden schon immens geworden ist. Dadurch verschafft sich die Lüge subjektiv in den Bedrohungsgefühlen ihre eigene Realität. Auch dies verhindert eine vernünftige US-Politik, nämlich schlicht die Truppen rund um den Globus abzuziehen und mit der Welt Frieden zu schließen.

Kein US-amerikanischer Krieg nach dem 2. Weltkrieg hat irgendetwas mit Demokratie zu tun
Es ist überhaupt verwunderlich, wie ungebrochen ignorant offensichtlich die amerikanische Volksseele am großen Morden in Übersee festhält. Kein US-amerikanischer Krieg nach dem 2. Weltkrieg hat irgendetwas mit Demokratie, oder was die US-Amerikaner dafür halten, zu tun (wodurch ein Krieg in Augen der USA zum gerechten, zum missionarischen Krieg für Werte würde) oder hätte in der Praxis irgendetwas gebracht außer zerstörte Länder und Gesellschaften. Das war in Korea und erst recht in Vietnam so, bei diesen blutigen, Millionenopfer fordernden Stellvertreterkriegen im Kalten Krieg; das ist in Afghanistan und Irak so, bei diesen Kriegen um territoriale Hegemonie im Wettlauf um die Rohstoffressourcen Erdöl und Erdgas. Mit dieser Politik abgehalfteter Raubritter, die vor der ideellen Verarmung edle Werte vertreten hätten, sagen wir einmal unhistorisch für die Mittelaltermetapher Demokratie, schaffen die US-Amerikaner nur eins, nämlich die traurige Gesetzmäßigkeit zu verlängern, dass nach dem 30-Jährigen Krieg, seit den Kabinettskriegen des Absolutismus die Zahl der Opfer unter Zivilisten von Krieg zu Krieg anstieg, bis hin zu Vietnam mit einem Anteil von 90% der Zivilbevölkerung. Bis jetzt fehlen wegen der Militärzensur aussagekräftige Zahlen der US-Feldzüge in Nahost.

Schwärmer und Pazifisten
Nur Schwärmer und Pazifisten könnten abstreiten, dass es reale Gefahren gäbe? Das deutsche Beispiel zeigt sehr deutlich, dass unsere Freiheit nicht am Hindukusch verteidigt wird, sondern unsere wirtschaftlichen Interessen im „Newest Deal“ des Hegemoniestrebens nach den Schlüsselrohstoffen des 21. Jhs., wie ja der dafür zurückgetretene Bundespräsident Horst Köhler unverblümt gesagt hat. Deutschland war relativ als „ehrlicher Makel der Interessen“ bis in die 1990er Jahre geachtet, weil es infolge seines nicht-souveränen Status bis 1990 keine außenpolitischen Ambitionen haben konnte. Seitdem der Krieg in Afghanistan im Gange ist, ist Deutschland vom Terrorismus bedroht, nicht umgekehrt, wie die staatliche Masche der medialen Maschinerie der Angst uns weismachen will.

Costa Rica – es geht auch anders
Das es auch anders geht, zeigt das demokratische Costa Rica, das das Militär 1949 per Verfassung abgeschafft hat und friedlich seit Jahrzehnten lebt, obwohl ringsum durch die USA angezettelte und bis zum bitteren Ende durchgefochtene Bürgerkriege in dem US-Hinterhof Mittelamerika tobten. Das internationale Konzern-Direktorium des Wachstums, auf den sich die herrschenden politischen Eliten in offenen Stunden berufen – ist es eigentlich Ihr Wachstum, geneigte Leserschaft? Ist es das Wachstum der Volkswirtschaften der entwickelten Welt, deren Arbeitslosenzahl wächst, deren Sozialstruktur von Jahr zu Jahr prekärer wird, deren Neue Armut den Parolen der Bosse Hohn spricht?

Das Ende der Geschichte?
Nach dem Ausruf des Endes der Geschichte (Francis Fukuyama 1992) – eigentlich nur dem neoliberalen Ausstieg aus der Geschichte, der den Protest dagegen delegitimierte, nachdem der Kommunismus kollabiert war – nach diesen zwei verlorenen Dekaden der Geschichtsverdrängung, derzufolge die altliberale Heilslehre doch Recht gehabt hätte, wonach der gerechte Tausch und die Konkurrenz, also der Utilitarismus aller gegen alle wie an den Fäden einer unsichtbaren Hand den Wohlstand der Nationen fördern würde, ist es Zeit wieder in der blutigen Kontinuität der realen Geschichte aufzuwachen.

Bibelprediger und Massenpsychose
Durch den Schneesturm war es eine lange Autofahrt mit verschiedensten Radiosendungen, bei denen am obskursten immer noch die Bibelprediger waren. Deren Tonfall erinnerte mich jedesmal an eine Szene in einer Moschee in Damaskus: Eine Schar burkatragender Frauen fand sich im Moscheehof ein und ein Vorbeter sang mit steigender Erregung Koranverse. Nach einer Zeit stimmten die Frauen wie in Trance in eine Art Liturgie ein, die sich in steigerndes Geschluchze bis hin zu Schmerzensschreien Ausdruck verlieh. Die Situation war so beklemmend, dass nur der auf uns Giauren ausgestreckte Zeigefinger gefehlt hätte, und die Menge wäre auf uns zugestürmt, um uns in der Luft zu zerreißen. Eine ähnliche befremdliche, explosive, zwischen Wahn und Ritual taumelnde Atmosphäre der Massenpsychose, nun aber mit xenophoben Obertönen, erlebte ein Freund und seine Reisegruppe während einer rituellen Schächtung in einem Dorf in Algerien in den frühen 1980er Jahren. Als der Schamane die Kehle eines Schafes durchschneiden wollte, wies er die Blicke der Menge in Richtung Ausländer und bedeutete ihnen unter beifälliger Bekundung der Menge, sie wären die nächsten, dessen Kehle durchgeschnitten würde. Es gibt Urlaube, bei denen man froh ist, wenn sie vorbei sind und man das Land wieder verlässt.

Letzte Abfahrt Hoffnung - Wo sind die Palmen geblieben?
Letzte Abfahrt Hoffnung – Wo sind die Palmen geblieben?

Endlich gefunden: der Pass über die Sierra Nevada
Zu guter Letzt fand ich übrigens noch einen Pass über die Sierra Nevada bei Lago Togo. Der bezauberte durch eine Schneelandschaft, wie ich sie zuletzt im deutschen Mittelgebirge, im Sauerland im wirklich wundervollen Winter 2005/ 2006 erlebt hatte. Ich fühlte mich wie zu Hause, nur das die Berge zerklüfteter und reizvoller schienen; ein den Deutschen im Allgemeinen doch wurmendes Gefühl, was die Naturlandschaft anbelangt, nicht gerade gesegnet worden zu sein. Reizvoller noch gestaltete sich die Fahrt durchs Weiß, da ich auf einen sonnigen Kalifornienurlaub eingestellt war und mich mitten in ein Wintermärchen versetzt sah.