Auf schmalem Grat: Antisemitismus im Briloner Anzeiger?

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Das Stichwort der Woche vom 9. Oktober 2013

In seinem „Stichwort der Woche“ hatte sich der Briloner Anzeiger vom 9. Oktober 2013 die „Bankenmoral“ vorgeknöpft.

(Ein Beitrag von Dr. Werner Jurga und zoom)

Vorweg: Norbert Schnellen, der Autor dieses Textes, ist ein Journalist, dessen Arbeit einen wertvollen Beitrag zur demokratischen Öffentlichkeit in Brilon darstellt. Das ist für ein Anzeigenblatt nicht selbstverständlich. Kapitalismuskritik im allgemeinen und insbesondere Kritik an der Rolle der Banken in der heutigen Zeit ist nicht nur zulässig, sondern dringend geboten. Schnellens „Stichwort“ zur „Bankenmoral“ ist jedoch ein Artikel voller innerer Widersprüche, der einen üblen Nachgeschmack hinterlässt.

Nun kommen in Norbert Schnellens Artikel Juden nicht einmal vor. Jedenfalls nicht direkt. Insofern lässt er sich nicht als „antisemitisch“ bezeichnen. Es ist ein im Grunde leicht verständlicher Text – für ein an alle Haushalte verteiltes Anzeigenblatt vermutlich recht „schwerer“ – Artikel, der gegen den Zins, das Zinssystem, „die Banken“ zu Felde zieht.

Allerdings: jedes Gezeter gegen den „Finanzkapitalismus“ ist im Kern judenfeindlich. Besonders unangenehm stößt im Anzeiger-“Stichwort“ auf, dass Schnellen – nach der Einleitung (moralisierend) – ausschließlich historisch und religiös argumentiert.

Erstens ist dies der Sumpf, auf dem die übelsten „Blüten“ gedeihen können. Und zweitens redlich Beleg dafür, dass Schnellen sich intensiv genug mit der Sache befasst hat, um zu wissen, dass das aus dem christlichen Zinsverbot erwachsene Berufsverbot für Christen dem Monopol der Juden in der Finanzbranche den Weg geebnet und damit die Massenbasis für jeglichen Antisemitismus bereitet hatte.

Natürlich weiß Schnellen das! Der geschätzte Norbert Schnellen steht politisch links. Vielleicht auch nur ein bisschen links, zumal in so einem Käseblatt nicht mehr möglich ist. Im Herzen empfindet er sich jedoch als sehr links; und in der Tat: Kapitalismus ohne Zins wäre so etwas wie ein Puff ohne Huren. Geht nicht. Ende. Voll die Revolution. (Verzichten wir hier einmal auf die Analyse der „Umgehungstatbestände“ in islamischen Ländern oder in muslimisch-kompatiblen Investmentfonds).

Der Zins ist der Preis des Geldes. Im Kapitalismus hat alles seinen Preis, erst recht Geld. Wenn Geld keinen Preis mehr hätte, „preislos“ wäre, also wertlos, ja dann … wäre der Kapitalismus kaputt. Mein Gott, wie links! Wo das Leben an sich so kumpelig sein könnte, wenn die Menschen nicht vom Zinskapitalismus ausgebeutet würden. Und Schnellen weiß natürlich, dass die „Ostküste“ fest in jüdischer Hand ist, und dass Goldman und Sachs (wie Kissinger) nicht einfach nur Franken, sondern ganz bestimmte Franken waren.

Der geschätzte Norbert Schnellen weiß freilich auch, dass man das nicht sagen darf. „Man darf ja nichts sagen“, stöhnt das schlichte Volk, dessen vermeintliche Befreier mit der Parole dagegen kämpfen: „Man muss doch in Deutschland wohl noch sagen dürfen, dass…“ – Schnellen will mit so etwas nicht in Verbindung gebracht werden. Deswegen flechtet er zwischen all die Kirchentheoretiker und Päpste zu Beginn und dem christlichen Gottessohn am Ende den Religionsstifter Moses höchstselbst ein. Zitat aus dem 5. Buch Mose: ein lupenreines, absolutes Zinsverbot.

Dieser Verweis stellt im Grunde eine besondere Abgeschmacktheit dar. Denn erstens: soll jetzt noch jemand kommen und „Antisemitismus“ schreien! Absurd. Wer sich auf den Gründungsvater des mosaischen Glaubens bezieht, kann überhaupt nichts gegen das Judentum haben. Zweitens ahnen wir somit, dass die Juden ihren eigenen Glauben verraten, dass eine religiöse Motivlage ihnen fremd ist, ihr Handeln allein der Profitgier geschuldet ist.

Es scheint, als sei der Verweis auf Moses keineswegs unangemessen, weil direkt danach ja auch unserer Herr Jesus angeführt wird. Allein: der hatte gar kein Zinsverbot erlassen. „Der stärkste Gegner von Bankgeschäften“, sehr hübsch geschrieben vom Schnellen, Achtung: „im kirchlichen Bereich“, unser Gottessohn. Ja, er hat sich Mühe gegeben, der Norbert Schnellen. Er selbst weist richtigerweise darauf hin, dass erst der katholische Klerus gut tausend Jahre später das Zinsverbot eingeführt hatte. Also lange vor der von ihm angeführten Enzyklika Mitte des 18. Jahrhunderts, doch kurz vor seinem Ende wurde damit noch einmal richtig Ernst gemacht.

Ideologischer Klassenkampf der Kirche zugunsten des Adels gegen das aufstrebende Bürgertum. Der Dritte Stand wurde immer reicher, konnte alles Mögliche kaufen – Immobilien, Grundstücke, ja sogar Adelstitel. Das Ende vom Lied: Kapitalismus, bürgerliche Revolutionen – der Adel in die Karrierenetzwerke und die Frauenzeitschriften verbannt, die Kirche kastriert, Eunuchen für andächtigen Firlefanz und Sozialdienstleister.

Im Grunde, da hat Norbert Schellen im „Briloner Anzeiger“ nicht ganz Unrecht, können Banken gar nicht moralisch sein. Sie können, was sie „nach der Finanzkrise“ tatsächlich gemacht haben, sich selbst einen „Verhaltenskodex“ auferlegen, mit dem sie ihre „moralischen Standards“ öffentlich erklären und sich daran messen lassen. Sie können, was sie ebenfalls tatsächlich gemacht haben, ihre Kreditvergabe restriktiver gestalten.

Was sie aber nicht machen können, auf die ihnen zustehenden oder von ihnen ins Auge gefassten Zinserträge zu verzichten. Banken sind Kreditinstitute. Geld zu verleihen, ist ihr Geschäftsmodell bzw. sollte ihr Geschäftsmodell sein. Es wird doch zu Recht kritisiert, dass die Institute gegenwärtig ihr „klassisches „Geschäft“ herunterfahren und stattdessen den Großteil ihrer Profite in sog. „Eigenhandel“ realisieren – „die Banken, die sich in der heutigen Zeit schon lange nicht mehr als Spar- und Kreditinstitute verstehen“ (Schnellen).

Ein auch in sich ziemlich wirres Zeug, dieses „Stichwort der Woche“ über die „Bankenmoral“. Schnellen ahnt, dass genau dieser (verwerfliche) „Eigenhandel“ auch unter den Bedingungen eines Zinsverbots gut möglich ist / wäre. Es ist bemerkenswert, dass Schnellen nicht einmal den kleinsten Hinweis gibt, dass der Kredit, also auch der Zins, eine ökonomische Funktion haben könnte. Was geschähe eigentlich, wenn das alles weg wäre? Wenn sich kein Häuslebauer, wenn sich kein Bauer, kein Handwerker irgendwo Geld leihen könnte? Es sei denn als zinsloses Darlehen… – ulkiger Gedanke.

Es ist nicht weiter bemerkenswert, dass Schnellen überhaupt nicht erwähnt, dass sich in Deutschland „die Banken in der heutigen Zeit“ fast ausnahmslos ganz oder teilweise in öffentlichem Eigentum befinden. Sparkassen, Volksbanken und selbst die laut Werbung neue und ganz andere Bank, die „nicht mehr so weitermacht“, die Commerzbank. Einzige Ausnahme: die Deutsche Bank, der wiederum die Postbank gehört, von der man es erstens nicht annimmt und die zweitens ein besonders „kleinkundenfreundliches“ Image hat.

Schnellens „Stichwort der Woche“ ist nicht antisemitisch? Aber es bietet ein gewisses Potenzial. Sein gesamter Aufbau, die gesamte Argumentation zur „Bankenmoral“ bliebe ohne den das Judentum betreffenden Impuls letztlich unbegreiflich. Dennoch ließe sich ein Antisemitismus-Vorwurf nicht seriös und solide begründen. Was wäre dann mit den regelmäßig fabrizierten Texten diplomierter oder promovierter Ökonomen, die die ökonomische Sinnhaftigkeit und moralische Unbedenklichkeit der Zinsen darlegen. Wären die dann „philosemitisch“? Oder gar „islamophob“? Absurd.

Absurd ist aber auch, dass Schnellen einerseits zu Beginn die Banken wieder „als Spar- und Kreditinstitute verstehen“ will und etwa die – zinsunabhängige – „Spekulation mit Lebensmittelpreisen“ als „großteils für den Hunger in der Welt verantwortlich“ geißelt, andererseits aber aus seinen religionsgeschichtlichen Darlegungen ein Plädoyer für ein Zinsverbot ableitet. Hirnrissig ja, aber nicht antisemitisch?

Dr. Werner Jurga / zoom

2 Gedanken zu „Auf schmalem Grat: Antisemitismus im Briloner Anzeiger?“

  1. „Allerdings: jedes Gezeter gegen den „Finanzkapitalismus“ ist im Kern judenfeindlich.“

    dieser satz hat mir schauer über den rücken gejagt. das ging irgendwie ziemlich daneben und hinterlässt mich ratlos.

    „jedes gezeter“? ist „jede“ kritik an einer aktuell sehr aktiven sparte der kapitalistischen institutionen „gezeter“? oder gibt es finanzkapitalismus gar nicht, wie die anführungszeichen andeuten? oder gibt es ihn doch, aber man muss dafür sein? oder kann man aufgrund des mittelalterlich-frühneuzeitlichen zinsverbots eine erscheinungsform des 21. jahrhunderts unmöglich thematisieren?

    und weiter: „im kern“? dank an den kernbeißer, ich blondine war offenbar nicht weit genug vorgedrungen. ich muss an ähnliche formeln denken wie „das ist die vorfrucht der sozialdemokratie“, die heinrich mann im untertan so treffend demaskiert hat. „im kern“! was für ein anmaßender schlauscheißer-habitus.

    an zoom: „read more?“ warum? warum sollte ich einen text, der ein so unakzeptables intro wählt, weiterlesen? ich habe keine ahnung, was der briloner kollege da verzapft. denn ich habe in der tat nicht more gelesen.

    ich bin gegen sowas allergisch. vor einigen jahrzehnten hat der damalige hamburger bürgermeister voscherau ein rollkomando in besetzte häuser der hafenstraße geschickt. die cdu hatte ihn öffentlich unter druck gesetzt, weil dort ein bischen gekifft und ansonsten wenig gearbeitet wurde. seine begründung war, es habe dort antisemitische graffitis gegeben. es handelte sich um wandbilder, die sich gegen die massaker in den palestinensischen flüchtlingslagern sabra und shatila empörten.

    das habe ich dem mann bis heute nicht verziehen. voscheraus familie ist, wie die meine, von den nazis verfolgt worden. das sollte zur wahrhaftigen auseinandersetzung mit antisemitismus befähigen, zumindest anspornen. wer den antisemitismus-vorwurf leichtfertig handhabt, richtet mehr schaden an, als er je wieder gutmachen kann.

  2. Oh je. Dazu von mir nur ein Rubrum:

    In den Wirtschaftswissenschaften ist die Rolle des Zinses als neutraler Allokationsmechanismus anerkannt und wird je nach ökonomischer Schule mittels verschiedener, jedenfalls facettenreicher Zinstheorien erklärt, wobei die Vertreter der Österreichischen Schule das Phänomen m.E. am ehesten beleuchten und selbst ein Kommunist wie Karl Marx oder auch ein „Vollgeldfanatiker“ wie Silvio Gsell Erkenntnisbeiträge zu liefern vermögen.

    Eine Kontextualisierung des Zinses in Antisemitismus ist aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht (und auch der gesunde Menschenverstand will da nicht wirklich folgen!) abwegig und hat allzu häufig den faden Beigeschmack einer pawlowreflexartigen Deutung bzw. Unterstellung. So auch hier.

    Der Antisemitismus unserer Tage findet im Zins keinen validen Aufhänger. Immerhin hat sich die Finanzwelt von der Zinsmarge abgekoppelt und wirtschaftet weit überwiegend im Eigenhandel. Zudem sind Zins und Zinsmarge dank wahnwitziger Geldpolitik in einem scheiternden Fiat-Geldsystem auf künstlich niedrigstem (und mittelfristig verheerend wirkenden) Niveau.

    Er kann vielmehr bzw. lediglich auf der Tatsache aufbauen, dass weite Teile des Personals der US-amerikanischen Finanzwelt bis nach ganz oben in SEC und FED (Greenspan, Bernanke, Yellen) von Juden gestellt werden, sich insoweit deren durchaus spezielle jüdische Moral im Finanzsystem spiegelt und sich eben dieses US-amerikanische Finanzsystem sich immer offensichtlicher als (auf Sand gebaute) Umverteilungspumpe und Ausbeutungsmaschinerie erweist.

    Dreh- und Angelpunkt des „modernen“ Antisemitismus (den ich nebenbei nicht für ein Massenphänomen sondern für eine kaum wahrnehmbare Randerscheinung halte) ist mithin die Frage, inwieweit diese Tatsache nur Koinzidenz ist:

    Diejenigen, die berufsbedingt hinter die Kulissen des US-Finanzsystems schauen können, glauben – übrigens ohne in Antisemitismus zu verfallen – kaum noch an Koinzidenz, sondern an eine unseelige Kombination aus jüdischer Arbeitsmoral und Indoktrination durch die Talibanschulen der ökonomischen Fakultäten der US-amerikanischen Ivy League.

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