100 Jahre Kunst in der Waldorfschule: die Golems,
und wie sie in die Welt kommen

Das zweite Goetheanum in Dornach (1928 bis heute), Südansicht (foto: „Wladyslaw“, wikimedia, (CC BY-SA 3.0))

Mein Fahrrad ist auf Autopilot unterwegs, fährt mich – Überraschung! – zur Rudolf Steiner Schule Berlin Dahlem, Schauplatz meiner ersten Hospitation in der Waldorfschule, und des „Fachdidaktischen Seminars Werken“. Wo ich schon mal da bin, werfe ich doch mal einen Blick …

„Was ist das?!?“, das mich aus dem Neubau-Pavillon anstarrt … einem „Ausstellungsraum“ mit großer Glasfront, hinter der „Köpfe“ in Lebensgröße auf Podesten stehen: „Warum machen die das?!? Warum zeigen die SOWAS?!? Ist das ein öffentlicher Pranger?“

Natürlich kenne ich die Antwort, aber ich hatte sie jahrelang erfolgreich verdrängt: In jeder Waldorfschule werden Köpfe aus Ton „plastiziert“, so der anthroposophische Fachbegriff. Habe ich auch selber gemacht, während meiner Ausbildung zum Waldorflehrer im „Seminar für Waldorfpädagogik Berlin“.

Schock! Plötzlich starren mich Golems an …

Aber nun bin ich geschockt. Was fasst den Schrecken zusammen? Mir fällt das Wort „Golem“ ein … paßt das? Wikipedia sagt:

„Golem ist das hebräische Wort für ‚formlose Masse; ungeschlachter Mensch’, (…) im modernen ‚Iwrit’ bedeutet das Wort ‚golem’ ‚dumm’ oder ‚hilflos’.“ Besser hätte ich es nicht sagen können … aber im Unterschied zur jüdischen Legende gibt es für die Waldorf-Golems kein Ritual, das sie zum Leben erwecken könnte, sie sind und bleiben sowas von „tot“ …

Die Aufgabe „Kopf plastizieren“ geht – wie alles in der Waldorfschule – auf Rudolf Steiner zurück. Eine Aufgabe, die eine hoffnungslose Überforderung der Schüler*innen ist: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass dabei etwas entsteht, das nicht „peinlich“ ist? 1 zu 1 Million?

Wo ist bei dieser Aufgabe die (künstlerische) „Freiheit“, wenn ein „naturalistisches“ Ergebnis erwartet wird? Warum überhaupt der Versuch einer „1 zu 1-Kopie“ der „Realität“? Noch dazu fehlen völlig die Voraussetzungen: wer unter den Waldorfschüler*innen hat Kenntnisse der „menschlichen Anatomie“? Also der funktionellen Zusammenhänge: Warum sieht ein Kopf eigentlich wie ein Kopf aus? Oder elementarer: wer versteht einen Kopf als dreidimensionales Objekt? Keiner … und ich spreche aus Erfahrung:

Während meiner zweiten Hospitation in der „Waldorfschule Schloss Hamborn“ nehme ich auch am Kunstunterricht teil. Die Schüler*innen kopieren einen Kupferstich von Albrecht Dürer: „Der heilige Hieronymus im Gehäus“. Dazu wird über eine Reproduktion des Kupferstichs ein Raster gelegt, das dann von den Schüler*innen 1 zu 1 übertragen wird … „Freiheit“ auch hier: NULL. Und trotzdem bleibt es eine Überforderung … ein Schüler zeichnet einen „Fußball“ auf die Fensterbank, so sieht bei ihm der Schädel aus … ich versuche ihm mit Skizzen zu erklären, dass ein Schädel „dreidimensional“ ist … er ahnt, was ich meine, reproduzieren kann er es nicht. Aber wozu auch?

Weil Rudolf Steiner das gesagt hat, bei den „Konferenzen mit den Lehrern“: „Dann würde ich, wenn ich genötigt wäre, mit den Dreizehn-, Vierzehnjährigen erst anzufangen, dann würde ich die Dürersche ‚Melancholie’ vornehmen, würde zur Anschauung bringen, wie wunderbar die Licht- und Schattenverteilung ist. Das Licht am Fenster, die Lichtverteilung am Polyeder und der Kugel, das würde ich umsetzen lassen in Farben. Dann das Licht am Fenster des ‚Hieronymus im Gehäus’ und so weiter.“

Gibt es Aufgabenstellungen, die ungeeigneter für den Kunstunterricht in der Schule sind? Nein.

Bei der Ausbildung zum Waldorflehrer nehme ich auch an der „Fachdidaktik Kunst“ teil, und sie ist ein einziger Schrecken: das hohle Pathos, der „menschenkundliche Hintergrund“, der ganze KITSCH, der da ausgebreitet wird, steht im Widerspruch zu allem, was mir an „Kunst“ jemals Freude bereitete, und ich denke nicht nur an mein Studium an der „UdK“, der „Universität der Künste“ …

Erziehung zur Freiheit

„In Waldorf- Werbebroschüren und Schulhomepages heißt es, die Waldorfschulen leisteten eine ‚Erziehung zur Freiheit’ und zur Kreativität. Sind Waldorfschüler freier? Kreativer?“, frage ich den Bildungswissenschaftler Prof. Dr. Stefan T. Hopmann im Interview. Seine Antwort:

„(…) welche Freiheit, welche Kreativität sind gemeint in einer Schulphilosophie, deren Erfinder weder als Demokrat, noch als Ästhet hervorgetreten ist, sondern der eine autoritäre Geisteshaltung einnahm und eine naturalistische Schrumpfästhetik bevorzugte? (…)“

 

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Weitere Artikel zu „100 Jahre Waldorfschule 2019“, Schwerpunkt „Didaktik“:

100 Jahre Pädagogik aus dem Esoterik-Baukasten“, von Andreas Lichte
Rudolf Steiners ‘survival of the whitest’“, von Andreas Lichte
Die Waldorfschule als Bekenntnisschule“, von Prof. Klaus Prange

7 Gedanken zu „100 Jahre Kunst in der Waldorfschule: die Golems,
und wie sie in die Welt kommen“

  1. … der Artikel, oben, wurde vom „Humanistischen Pressedienst“, „hpd“, übernommen (hier die neue Intro):

    „100 Jahre Kunst in der Waldorfschule

    Die Golems – und wie sie in die Welt kommen

    Waldorfschulen erzählen den Mythos einer ‘Erziehung zur Freiheit’. Aber ‘auch in den musischen und künstlerischen Bereichen besteht nicht wirklich kreative Freiheit, wie ständig propagiert wird’, schreibt Volker Kirsch in seinem offenen Brief an Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Eine Begegnung mit der ‘Kunst’ der Waldorfschule von Andreas Lichte (…)“

    weiter: https://hpd.de/artikel/golems-und-sie-welt-kommen-17096

  2. … Fridolin zeichnete schon als Achtjähriger gerne Comics. Nach anthroposophischer Auffassung sollte er aber in diesem Alter nur flächig malen – mit Aquarellfarben oder Wachsmalkreide. Doch Fridolin hasst Wachsmalkreiden …:

    „100 Jahre Waldorf-Bewegung:

    Siegeszug einer fragwürdigen Ideologie

    rbb „Kontraste“, 26.09.2019, Andrea Everwien und Markus Pohl

    Die Wiege der Menschheit liegt in Atlantis. Ein Kind ist eine wiedergeborene Seele und hat ein schicksalhaftes Karma. Mit sieben Jahren wird der Ätherleib geboren, mit 14 Jahren der Astralleib. Dies sind nur einige der Überzeugungen des Anthroposophen Rudolf Steiner, die bis heute Form und Inhalt des Unterrichts in den Waldorfschulen prägen. Kontraste hat zum 100. Waldorf-Geburtstag mit Experten, ehemaligen Schülern und Lehrern sowie Vertretern der Waldorf-Schulen über das seltsame Weltbild der Waldorf-Bewegung gesprochen.

    Anmoderation: Aber jetzt zu einem Jubiläum – das auch hier im Ersten [in den ARD-„Tagesthemen“] sehr bejubelt wurde: 100 Jahre Waldorfpädagogik – herzlichen Glückwunsch auch nochmal von unserer Seite! Vor allem zu dem heilen Bio-Bild, was jetzt viele im dazu Kopf haben: Waldorf, die Vollwert-Schule: Da zählt eher Gartenbau als gute Noten, Lernen ohne Leistungsdruck – so modern. Und so verlockend, dass viele Eltern nicht genau hingucken, wo sie ihre Kinder da eigentlich hinschicken.

    (…)“

    weiter (mit Video): https://www.rbb-online.de/kontraste/archiv/kontraste-vom-26-09-2019/100-jahre-waldorf.html

    1. „Andrea Everwien und Markus Pohl vom RBB ist es am Ende ja dann doch gelungen, mich als »Waldorf«-Repräsentant ziemlich dumm dastehen zu lassen …“, sagt Henning Kullak-Ublick, Sprecher des „Bundes der Freien Waldorfschulen“, über „sein Ende“ im „Kontraste“-Beitrag Siegeszug einer fragwürdigen Ideologie

      Kullak-Ublick entwickelt in der „Erziehungskunst“, der anthroposophischen Hauspostille der Waldorfschulen, seine ganz eigene „Theorie“ für den kritischen Beitrag des rbb – Zitat aus Henning Kullak-Ublicks Artikel „Kontraste, ideologisch„:

      „Schon bald war mir klar, dass diese Fragen [des rbb] in Form und Inhalt aus einem zwar kleinen, im Internet aber regen Zirkel radikaler Agnostiker stammen, für die die anthroposophische Bewegung eine einzige Provokation ist, weil sie die Wirklichkeit unserer geistigen Existenz als Menschen ebenso ernst nimmt wie unser seelisches Leben und unser körperliches Sein.“

  3. „Die Alanus-Hochschule erfindet einen neuen Steiner

    „Esoteriker“, „Rassist“, „Scharlatan“ sind heute übliche Bezeichnungen für Rudolf Steiner. Das möchte die anthroposophische Alanus Hochschule ändern: „Philosoph“ oder „Wissenschaftler“ hört sich einfach besser an und verkauft sich auch viel leichter. Ein Dialog über den neuen Steiner.

    „Kannst Du ’sachadäquat multiperspektivieren‘?“ 

    (…)“

    weiter bei „Humanistischer Pressedienst“: https://hpd.de/artikel/alanus-hochschule-erfindet-einen-neuen-steiner-18488

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