„Ist der IS überhaupt noch zu stoppen?“ – Ein mieses Spiel …

Konflikte an der "Grenze" zwischen dem sunnitischen Arabien und der östlich davon gelegenen schiitischen Welt auf Tausende Kilometer eskaliert
Die Konflikte an der „Grenze“ zwischen dem sunnitischen Arabien und der östlich davon gelegenen schiitischen Welt sind auf Tausende Kilometer eskaliert.

Wer geglaubt haben sollte, die dschihadistisch-salafistische Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) habe ihre größte Zeit schon hinter sich, ist in der letzten Woche eines Besseren belehrt worden.

(von Dr. Werner Jurga, Duisburg)

Am letzten Freitag, den 15. Mai 2015, hat der IS die irakische Großstadt Ramadi eingenommen. Ramadi hat mehrere Hunderttausend Einwohner und liegt am Euphrat auf der Straße, die Bagdad mit Syrien verbindet. Mit der Eroberung Ramadis durch den sog. „Islamischen Staat“ hat die Bedrohung Bagdads durch den IS dramatisch zugenommen. Da am letzten Wochenende auch der letzte Grenzübergang dem IS in die Hände gefallen ist, existiert faktisch keine Grenze zwischen dem Irak und Syrien – für den IS ein großer strategischer Vorteil.

Im Irak kontrolliert der IS mindestens ein Drittel, in Syrien mittlerweile mehr als die Hälfte des Staatsgebiets. Am Mittwoch hat der IS Palmyra erobert. Die Oasenstadt liegt im Zentrum Syriens – etwa 200 Kilometer entfernt vom Großraum Damaskus. Strategisch ebenso wichtig wie das irakische Ramadi kommt Palmyra darüber hinaus als Unesco-Weltkulturerbe und eine der wichtigsten antiken Stätten im Nahen Osten eine große symbolische Bedeutung zu. Deshalb wurde in den hiesigen Medien relativ ausführlich über die Einnahme Palmyras durch den IS berichtet. Die IS-Propaganda liefert das nötige Bildmaterial: Kämpfer in Montur und Pose des IS, wie sie vor den Säulen der Kulturstätte posieren. Wir ahnen, dass es den Ruinen an den Kragen geht.

Der Bevölkerung, die schutzlos zurückgelassen werden musste, geht es keinen Deut besser als den Kulturschätzen. Bilder zeigten Straßen, die von Blut rot gefärbt sind. Augenzeugenberichten zufolge soll der IS unverzüglich Dutzende Menschen öffentlich hingerichtet haben. In den hiesigen Medien wird relativ – jedenfalls im Vergleich zu anderen Kriegsgebieten in der Region oder auf dieser Welt insgesamt – umfangreich über den Vormarsch des IS sowohl in nordwestliche wie in südöstliche Richtung berichtet. Die USA gelten nicht nur als die eigentlichen Verursacher, sondern inzwischen auch als notorische Versager in diesen Konflikten im Irak und in Syrien, die vermutlich irgendwie zusammenhängen – wegen des IS oder der Geographie oder so.

Der IS scheint gleichsam „unaufhaltsam“ zu expandieren – womöglich nicht nur in diesem, wenn auch nicht mehr nationalstaatlich, so doch wenigstens einigermaßen lokal abgrenzbaren Machtvakuum. Schließlich wenden sich in diversen Gegenden Afrikas und Asiens dschihadistische Warlords von der einst als „Terrornetzwerk“ gefürchteten Al Qaida ab, um dem Kalifen Ibrahim ihre ewige Treue zu schwören. U.a. auch in Libyen, wo die Krieger von Abu Bakr al-Baghdadi – so hieß der Kalif, bevor er sich zu einem solchen ernannt hatte – die Küste inklusive der Schlepperindustrie kontrollieren sollen. Wir müssen davon ausgehen, dass von dort auch heilige Krieger ins gottlose Europa geschmuggelt werden.

Somit stehen wir – möglicherweise gottlosen, aber ganz bestimmt doch völlig unbeteiligten – Europäer vor zwei bangen Fragen. Erstens: ist dieser „Islamische Staat“ überhaupt noch zu stoppen? Und zweitens: kann der IS auch auf Europa überschwappen? Fangen wir mit Frage Zwei an, denn sie ist deutlich unkomplizierter. Ihre Antwort lautet: es ist nicht mehr die Frage, ob der IS in Europa Fuß fassen kann. Ihm ist es längst gelungen. Man denke an die diversen Terroranschläge und Anschlagsversuche, die auf das Konto des IS gehen. Noch wichtiger – ja okay: nicht unbedingt für uns, aber objektiv, gemessen etwa in der Zahl der Toten und Getöteten, schon. Europa ist ein wichtiges, vielleicht das wichtigste Rekrutierungsgebiet für Dschihadisten aller Art.

Hunderte Deutsche, Tausende Europäer kämpfen heute im „Islamischen Staat“, also in einem Gebiet, das wir noch den zerfallenden Staaten Syrien und Irak zurechnen, für die Sache des Kalifen. Insofern ist der IS ist in gewissem Sinne schon „auf Europa übergeschwappt“; bekanntlich gilt die Angst der Innenminister – und nicht nur ihre – einem etwaigen „Zurückschwappen“, also den Rückkehrern mit Kriegserfahrung, von denen einige als desillusioniert, andere aber als völlig verroht und zu allen entschlossen betrachtet werden. Dummerweise weiß man nie so ganz genau, wer zu welcher Gruppe zu zählen ist. Es ist völlig klar: Europa ist vom IS-Terror in vielfältiger Weise betroffen. Wir leben nicht auf einem Handtuch.

Deutlich komplizierter liegen – wie gesagt – die Dinge in Bezug auf Frage Nummer Eins. Deshalb die Antwort vorweg: der „Islamische Staat“ ist nicht unaufhaltsam, er ist zu stoppen, und nicht einmal der gegenwärtige (verbreitete?) Eindruck, der IS befinde sich umstandslos in der Offensive und habe die Initiative, bildet das Geschehen im Nahen und Mittleren Osten adäquat ab. Vielmehr ergibt sich dieses Bild, wenn die Bühne nur halb beleuchtet wird. Es wird nämlich nicht in Rechnung gestellt, dass der Krieg zwischen dem IS und seinen Feinden in den Großkonflikt zwischen dem sunnitischen Arabien und der östlich davon gelegenen schiitischen Halbmond eingebettet ist .

Die Gesamtbetrachtung ergibt, dass der Konflikte an der „Grenze“ zwischen dem sunnitischen Arabien und der östlich davon gelegenen schiitischen Welt auf Tausende Kilometer eskaliert – die schiitische Sichel vom Mittelmeer zum Golf. Westlich angrenzend die sunnitische Gegensichel. Die große Mehrheit der Muslime ist der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam zuzurechnen. Im Iran, Irak und in Bahrain stellen die schiitischen Muslime sogar die Mehrheit der Bevölkerung. Diese Zone mit einem hohen Anteil schiitischer Muslime hat in etwa die Form einer Mondsichel und erstreckt sich vom persischen Golf über den Iran bis in den Libanon, wo die Schiiten in etwa ein Drittel der Bevölkerung stellen.

Gewiss zeigt die gegenwärtige Expansion des IS den zentralen, definierenden Hauptkonflikt des Nahen und Mittleren Ostens, in den auch alle anderen Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten sowohl „Richtung“ Mittelmeer als auch „Richtung“ Golf einmünden. Vom Libanon bis zum Jemen also auch im „Zentrum“ – immer haben auch die Vormächte Saudi-Arabien (Sunniten) und Iran (Schiiten) ihre Finger mit im Spiel. Und selbstverständlich auch die Amerikaner und die Russen. Die „kleine Besonderheit“ in Sachen „Anti-IS-Koalition“: sie wird geführt von den USA und den Saudis, den Hauptgegnern der schiitischen Kräfte. Sie sollen hier die aggressivste sunnitische Miliz bombardieren.

Wenig überraschend, dass sie dies sowohl im Vorfeld der Eroberung von Ramadi als auch der von Palmyra „vergessen“ haben. Dabei wäre es für die Luftwaffe ein Leichtes gewesen, dem IS einen Strich durch die Rechnung(en) zu machen. Völlig ungestört konnten die IS-Kolonnen aus Jeeps und Pickups in beiden Fällen über die Hauptverkehrsstraßen auf die ins Auge gefassten Städte zufahren. Es stimmt: dort, wo die „Anti-IS-Koalition“ in den letzten Monaten bombardiert hatte, musste der IS seine Taktik ändern und seine Kämpfer in kleineren Einheiten zu den Schlachtfeldern bringen. Davon konnte in den Fällen Ramadi und Palmyra jedoch keine Rede sein. Hier handelte es sich gleichsam um Eroberungen mit Ansage.

Insgesamt (!) sind aber die schiitischen Kräfte nach wie vor in der Offensive. So schrecklich und grässlich die Geländegewinne des IS auch sind, „unaufhaltsam“ sind sie nicht. So schickt jetzt, also eine Woche nach der Einnahme durch den IS, beispielsweise der Iran, da sich die USA so desinteressiert zeigten, schiitische Milizen nach Ramadi. Die Rede ist von Tausenden Kämpfern, die den Auftrag haben, Ramadi „zurück zu erobern“. Der Weg zur Front geht durch von Sunniten bewohnte Gebiete; die Schiitenmilizen sollen dort ähnlich barbarisch mit der Bevölkerung umgehen wie der sunnitische IS. Wir werden sehen, wie die Schlacht um Ramadi ablaufen wird. Sicher ist: es wird ein abscheuliches Blutbad.

Im einzelnen ist das alles schwer einzuschätzen. Insgesamt lässt sich aber feststellen, dass im Gerangel der Anti-IS-Kräfte (also USA vs. Iran plus der Westen vs. Russland) beide Seiten – zynisch gesprochen – nervenstark sind und eine Einigung nicht übers Knie brechen. Das bedeutet: der IS, also die von den Golf-Geldsäcken ausgestatteten Dschihadisten-Mörderbanden unter Führung der Reste des Saddam-Regimes, können weiter ihr Unwesen treiben. Dennoch: die Sunniten sind in der Defensive, in jeder Hinsicht „kaputt“, während die schiitische Seite mit dem Iran an der Spitze alle Trümpfe in der Hand hält. Deshalb meinen die diversen Anti-IS-Kräfte sich – zynisch gesprochen – „Spielereien“ leisten zu können.

Es sind – ernsthaft gesprochen – sehr harte Machtkämpfe. Sie finden auf verschiedenen Ebenen der in diesen Krieg greifenden Konfliktlinien statt. Dem IS Erfolge zu „gönnen“, ist dabei eine „Karte“ in diesem komplizierten „Spiel“. Die Alternative wäre, den Iran ungestört expandieren zu lassen. Das werden die Amerikaner nicht wollen und die mit ihnen – und den Europäern – verbündeten Saudis niemals zulassen. Gleichzeitig wird der Öffentlichkeit in den USA und hier das Bedrohungsbild vom barbarischen IS vor Augen gehalten. Und tatsächlich: nichts spricht dafür, dass der IS auch nur eine Idee weniger grausam sein könnte, als von ihm selbst und den westlichen Medien dargestellt. Es ist ein verdammt mieses Spiel. Vor allem für diejenigen Menschen, die der IS kriegt oder die vor ihm wegrennen müssen.

Werner Jurga, Duisburg, 25. Mai 2015