Inklusions-Nazis. Ein Gastbeitrag von Erbloggtes.

InklusionWordle20150914Als ich heute den Beitrag von Erbloggtes gelesen habe, bin ich sogleich am Einspiel-Video von Jung & Naiv (siehe unten) hängen geblieben. Die knappe Stunde lohnt sich für alle, die sich auch nur im Entferntesten mit dem Thema Inklusion beschäftigen. Mein Wort. Die Verknüpfungen von Zusammenfassungen und Beiträgen, die Erbloggtes hier leistet, geht über die kurzatmige politische Inklusions-Diskussion hinaus, in der es im Wesentlichen um Geld und Stellen geht.

Wer weiterliest und eigenständig weiterforscht, wird aus der historischen Perspektive des Artikels die Lösung einiger Probleme unseres Bildungssystems zumindest erahnen können.

(Disclaimer: Dieser Gastbeitrag ist heute zuerst im Blog von Erbloggtes erschienen.)

Ermutigt es, dass derzeit Inklusion eine wichtige Rolle in der Bildungspolitik spielt, oder “behindert” dies Menschen mit Behinderung etwa eher bei ihrer Integration in die Gesellschaft? Inklusion bedeutet hier erstmal Koedukation (gemeinsame Unterrichtung) von Kindern mit und ohne Behinderungen.

Tilo Jung hat in “Jung & Naiv” ein sehr informatives Interview mit Adolf Bauer vom Sozialverband Deutschland zu diesem Thema geführt:

Besondere Aufmerksamkeit lohnt bei einem Gedanken, der von Bauer angesprochen, aber nur mehr oder weniger ausgeführt wird:

Historisch-lebensgeschichtlich weist er darauf hin, dass Förderschulen (Sonderschulen, Hilfsschulen, oder wie auch immer sie heißen mögen) eigentlich erst in der Bundesrepublik flächendeckend etabliert wurden, er selbst noch eine “inklusive” Schule ante litteram besucht habe.

Er begründet die Einführung von “Sonderschulen” mit der Absicht, Menschen mit Behinderung besser zur Integration zu verhelfen, indem man sie “gezielt” fördert. Zu kurz kommt dabei leider die hintergründige Zielsetzung, durch Selektion (“Gliederung des Schulsystems”) die “Leistung” der “Besten” zu optimieren, da diese nicht mehr von den “Schlechtesten” “gestört” würden.

Letzterer Satz lässt sich kaum verständlich und zugleich richtig formulieren, weil die etablierte Sprache vorgaukelt, diese ideologische Grundlage bundesrepublikanischer Bildungspolitik wäre weiterhin gültig und irgendwie überzeitlich richtig. Das ist nicht der Fall, aber Bauer weist darauf hin:

Wer heute 55 Jahre oder jünger ist, hat es in der Regel nicht anders erlebt, kann sich kaum anderes als diese segregierende Lern-Ideologie vorstellen und als sinnvoll empfinden. (Im Kneipenlog wurde vor Jahren mal am Beispiel Hausaufgaben über Selektionsaufträge der Schule diskutiert.)

Nazikeule

Die Herkunft dieser traditionellen Denkweise aus dem Nationalsozialismus deutet Bauer leider nur an. Die Nazis glaubten (und glauben bis heute), die Gesellschaft (sprich damals: Volksgemeinschaft) müsse vor dem schädlichen Einfluss Behinderter geschützt werden. Einerseits in der Perspektive der “Rassenhygiene”, die zu über 400.000 Zwangssterilisationen führte,[1] andererseits – im Krieg radikalisiert – aus dem Gesichtspunkt der Befreiung von “nutzlosen Essern”, was zur systematischen Ermordung von über 70.000 Menschen in der Aktion T4 führte.

Letzteres wollte (und durfte) man nach 1945 nicht mehr. Aber das zur Verfügung stehende Personal hielt an zahlreichen Nazi-Ideen fest – zumal die ja auch nicht 1933 erfunden worden waren, sondern auf eine lange Vorgeschichte bis in die Aufklärung zurückblickten.

Als Symbolfigur taugt vielleicht der “Wegbereiter der modernen Sonderpädagogik” Wilhelm Hofmann (1901-1985), nach dem erst seit wenigen Jahren keine Schule mehr benannt sein will. Erst 2014 erschien eine detaillierte Untersuchung mit dem Fokus “Sonderschullehrerausbildung im Nationalsozialismus” (Google Books), in der die emeritierte Bielefelder Professorin Dagmar Hänsel solchen Kontinuitäten der Denkweise über das 20. Jahrhundert hinweg nachspürt. Eine lesenswerte (wenn auch unkritische) Rezension gibt Einblicke:

“Dabei wird eine bruchlose Entwicklungslinie der Sonderpädagogik von ihren Anfängen am Ausgang des 19. Jahrhunderts in die Zeit der Weimarer Republik hinein sowie während und nach der Zeit des Nationalsozialismus sichtbar, die Zusammenhänge bis in die Gegenwart aufweist.”

Hänsel beklage dabei auch den Umgang der Sonderpädagogik mit ihrer NS-Vergangenheit:

“Bis heute verbreitet die Sonderpädagogik, das Naziregime habe die Hilfsschule und die Sonderpädagogik diskriminiert, an der Zerschlagung des Hilfsschulwesens gearbeitet und die Ausbildungslehrgänge für Hilfsschullehrer verboten. Fast 70 Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft ist die Sonderpädagogik noch immer nicht in der Lage, für lücken- und schonungslose Selbstaufklärung zu sorgen.”

Starker Tobak, den die Rezensentin aus Hänsels Untersuchung referiert, und der sogleich Widerspruch bei offenbar heutigen Sonderpädagogen weckt, wie die Kommentare unter der Rezension zeigen.

Nazikeule – Rückhand

Die Rezension weiter:

“Die Hilfsschulpädagogik, die der 1898 gegründete ‘Verband der Hilfsschulen Deutschlands’ entwarf, beruhte ausschließlich auf rassenhygienischen Begründungen. Wie Hänsel zeigt, ging die Hilfsschulpädagogik nicht von der Bildsamkeit aller Menschen aus. Sie blieb somit hinter den Vorstellungen zurück, die die allgemeine Pädagogik schon entwickelt hatte. Sie unterteilte Menschen in Bildungsfähige, Noch-Bildungsfähige und Nicht-Bildungsfähige.”

Wenn man nach 1945 alle “unmittelbaren Bezüge auf die nationalsozialistische Rassenideologie und die bevölkerungspolitischen Maßnahmen” aus den Ausbildungsordnungen entfernte, waren das – wie in vielen anderen Bereichen – erstmal Lippenbekenntnisse: Denn “die Diagnostik von ‘Anomalien’ und ‘Schwachsinn’ stand weiterhin im Zentrum der sonderpädagogischen Ausbildung.”

Die Rezensentin stellt abschließend mit Hänsel aber auch die heutige inklusionsorientierte Sonderpädagogik in Frage(n):

“Gibt nicht die Sonderpädagogik heute wie die Hilfsschulpädagogik damals vor, die ‘besonderen’ Kinder mit ihrer Diagnostik trennscharf von den ‘anderen’ identifizieren zu können, um sich mit ihrer Zuständigkeit für diese Kinder den allgemeinen Pädagogen als Entlastung anzubieten? Werden nicht damals wie heute die diagnostizierten, wenn auch mit einer unterschiedlichen Terminologie bezeichneten Kinder stigmatisiert und sind es nicht damals wie heute fast ausschließlich Kinder in Armut, für die die Sonderpädagogik ihre Zuständigkeit reklamiert?”

Auch an diesem Thema erweist sich der Nationalsozialismus als radikale Moderne. Das heißt nicht nur, dass er fest in seinen Vorgängerideologien verwurzelt ist, sondern auch, dass er nach 1945 nicht einfach verschwinden konnte. Wo man heute die eigenen Kontinuitätslinien, die auf den Nationalsozialismus verweisen, am stärksten leugnet, da ist er wohl oftmals noch am lebendigsten.

P.S.: Mit Fokus Antisemitismus berichtet heute ein Beitrag von 3sat nano über die Persistenz von NS-Anschauungen und die moderne Pädagogik, die der NS-Ideologie dazu verhalf.

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