California here I come: Reisebericht Teil II – Merced: Gedanken über eine amerikanische Kleinstadt

Unser Autor war wieder auf  Tour. Diesmal in Kalifornien. Seine Betrachtungen über und Erlebnisse in San Francisco haben wir mit vielen Bildern gespickt vor fünf Tagen veröffentlicht.  Heute fahren wir mit ihm in die kalifornische Kleinstadt Merced.

Merced …

Tatsächlich: „Gnade!“ möchte man in dieser zu breit geratenen Kleinstadt ausrufen, in diesem Nirgendwo zwischen Küste und Sierra Nevada, im Valle Central von Kalifornien.

Behäbig breit ergießen sich die Straßenzüge einem spanischen Schachbrettmuster folgend in die vier Himmelsrichtungen, an denen bungalowartige, einstöckige Einfamilienhäuser sich reihen. Hier lebt Mrs. Middle Mayority aus der Middle Class (des soziologischen Klassikers zur Werbeindustrie der 1950er Jahre von Vance Packard); in den Häusern, hinter den Fassaden, propere Sauberkeit und unschuldiges Seeleninterior gleich den gerahmten protestantischen Erbauungssprüchen, zum Teil gehäkelt, an der Wand.

Hier ist der weiße, angelsächsische Protestant zu Haus, den unüberbietbar Grant Wood im Schnappschuss-Potrait von „American Gothic“ (1930) eingefangen ist.

Aber mein Herbergsvater hier war nun ‚mal ein äußerst bemühter, höflicher und netter Mensch und seine Familie ebenso, sodass ich meine Vorurteile, zumindest als Tourist auf der Durchreise, nicht aufrecht halten mag.

Überhaupt ist eine pragmatische Hilfsbereitschaft, die Bürgersolidarität unter US-Amerikanern, an der Tagesordnung. Als ich nördlich San Franciscos im Landesinnern die Hügel Sausalitos mit dem Fahrrad überwinden wollte, um einen Nationalpark mit Mammutbäumen zu besuchen, stieg ich bei einigen Anhöhen der Steigung wegen ab. So ziemlich jedes sprichwörtlich zweite Auto, das mich passierte, bremste ab, fuhr langsamer und fragte, ob es mich und mein Fahrrad mitnehmen solle. So etwas würde in Deutschland nicht vorfallen, wo Kontaktsuche seitens Fremder eher als Belästigung, Gespräche dieser Art gar als Nötigung gilt.

Während der dreistündigen Fahrradtour hatte ich Wink- und Pfeifkontakt mit elf vorbeifahrenden Autos und dreimal Anfeuerungsgejohle daraus, viermal Small Talk mit auf der Landstraße anhaltenden Wagen und drei Gespräche mit anderen Fahrradfahrern und das alles, obwohl ich nicht die mindeste Anstrengung zur Kontaktaufnahme kommunizierte. Der öffentliche Raum gehört tatsächlich dem aufgeschlossenen Bürger und seinem ungezwungenen Plausch.

Auf dem Weg nach Merced. Die Golden Gate Bridge. (foto: weber)
Auf dem Weg nach Merced. Die Golden Gate Bridge und Hügel bei Sausalitos. (foto: weber)

Jedenfalls ist Merced im Prinzip nicht anders als deutsche Kleinstädte in der Pampa, aber virtueller wegen dieser Bauart des Fertigbau-Bungalows, was etwas billig wirkt, aber vielleicht deshalb erschwinglich und wahrscheinlich dem nomadischen Trieb der US-Amerikaner entgegenkommt, wohingegen der Europäer eher den Ruf trotz der neuen, modernen Mobilität genießt, sesshaft für Jahrhunderte zu werden, auch da man schlicht beim Häuserbau und -kauf, zumindest in Deutschland, arm wird und sich das nur einmal im Leben leisten kann.