Im September 2019 wird die Waldorfschule hundert Jahre alt. Keine andere Schulform hält so starr an den Vorgaben ihres Begründers fest, wie die Waldorfpädagogik an der Anthroposophie Rudolf Steiners.
(Der Artikel erschien zuerst beim „Humanistischen Pressedienst“, unter dem Titel „100 Jahre Pädagogik aus dem Esoterik-Baukasten“)
In der sich nach aussen hin fortschrittlich präsentierenden, anthroposophischen „Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft“ ist noch immer Rudolf Steiners esoterische „Allgemeine Menschenkunde“ aus dem Jahr 1919 im Programm. Von „2017 – 2020“ veranstaltet die Alanus Hochschule die, Zitat:
„Thementage Menschenkunde
Die von Rudolf Steiner 1919 begründete Waldorfpädagogik beruht auf einer anthroposophischen Menschenkunde, die Mensch und Welt in einem spirituellen Erkenntnishorizont begreift.
Diese Menschenkunde umfasst anthropologische, (entwicklungs-)psychologische, physiologische und epistemologische Aspekte. Ihre detailliertesten Ausführungen finden sich in den Vorträgen Rudolf Steiners ‘Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik’ und im sogenannten ‘Heilpädagogischen Kurs’.
Die ‘Thementage Menschenkunde’ an der Alanus Hochschule behandeln unterschiedliche Aspekte der Anthropologie Rudolf Steiners, die sowohl für die Waldorfpädagogik als auch für die anthroposophische Heilpädagogik von zentraler Bedeutung sind. Neben der geisteswissenschaftlichen Grundlagenarbeit sollen die einzelnen menschenkundlichen Aspekte auch mit Blick auf ihre Relevanz für die pädagogische Praxis befragt werden.“[1]
„…anthropologische, (entwicklungs-)psychologische, physiologische und epistemologische Aspekte“ klingt nach „Wissenschaft“, aber das ist die „Allgemeine Menschenkunde“ Steiners sicher nicht. Was dann?
Nähern wir uns zunächst „von aussen“ an – ohne jede Vorkenntnis der Anthroposophie –, ein Freund schreibt mir:
„Ich habe auch einen Blick in die ‘Allgemeine Menschenkunde’ geworfen.
Das erste, was mir darin auffällt, ist das Literaturverzeichnis – es beinhaltet, soweit ich sehe, nur Werke von Herrn Steiner; der Mann muss das Rad wirklich sehr gründlich neu erfunden haben – oder eine Vorliebe für intellektuellen Autismus haben.
Abgesehen davon, dass die Vorträge in der Sprache einer anderen Zeit (Kaiserzeit) geschrieben sind und mir das ‘geheimbündische’ an der ganzen Tonart nicht gefällt, wirken einige Stellen so, als hätte der Autor Ideen und Begriffe aus der Alten Indischen Kultur (Wiedergeburt, Karma, Bedeutung des Atmens etc) ziemlich krude übernommen und sie sich – ohne diese Quellen zu zitieren – zu eigen gemacht. Zum Vergleich könntest Du mal einen Blick in Heinrich Zimmers ‘Philosophie und Religion Indiens’[2] werfen – da steht zu diesen Sachen meines Erachtens Interessanteres und besser Lesbares drin.
Ein schlimmer Verdacht, der einen beim Lesen des Werkes beschleicht, ist, dass die Pädagogische Lehre, die hier ausgebreitet wird, das Kind nicht um seiner selbst willen betrachtet und fördert, sondern nur als Baustein in einem galaktischen Puzzlespiel (aus Atlantiern und Lemuriern?).“
Dieser „schlimme Verdacht“ wird von Prof. Dr. Stefan T. Hopmann, Bildungswissenschaftler an der Universität Wien, im Interview über die Waldorfschule bestätigt:
„Lichte: Ein Werbeslogan der Waldorfschulen lautet: ‘Im Mittelpunkt der Mensch’. Im Standard[3] sagen Sie über die anthroposophische Pädagogik: ‘Denen geht es um das Kind so wie es der Bank ums Geld geht.’
Hopmann: Im Mittelpunkt steht bei denen der Mensch, wie Rudolf Steiner ihn sieht, also als Reinkarnation, als Mitglied einer Rasse, als Charaktertyp usw. Ziel ist es, den jeweiligen Menschen entsprechend den Steinerschen Lehren zu formen bzw. sein ‘Wesen’ zu entfalten. So wie bei anderen Sekten verbindet sich damit ein Totalitätsanspruch: Wir wollen dich mit Haut und Haaren, mit deiner ganzen Persönlichkeit vereinnahmen – nicht anders als eine Bank dein Geld will: Nicht um nett zu dir zu sein, sondern um an dir Geld zu verdienen. Bloß blöd, wenn man zu jenen Wesen zählt, denen laut Steiner Dahinsiechen oder Verkümmern vorausbestimmt ist. Denen geht es dann wie bei der Bank, wenn die Kreditwürdigkeit dahin ist.“[4]
Und was ist gemeint, wenn der Freund schreibt: „… wirken einige Stellen so, als hätte der Autor [Rudolf Steiner] Ideen und Begriffe aus der Alten Indischen Kultur (Wiedergeburt, Karma, Bedeutung des Atmens etc) ziemlich krude [sic!] übernommen“?
Diese Frage beantwortet man am besten „von innen“, indem man selber einige Seiten der „Allgemeinen Menschenkunde“ liest, die komplett und gratis online ist. Wer das getan hat, wird auch nicht mehr sagen wollen, dass folgendes „aus dem Kontext gerissen ist“, denn es gibt keinen vernünftigen, nachvollziehbaren „Zusammenhang“ mehr, Zitat Steiner aus der „Allgemeinen Menschenkunde“:
„Der Mensch steht der Außenwelt gegenüber. Das Geistig-Seelische strebt danach, ihn fortwährend aufzusaugen. Daher blättern wir außen fortwährend ab, schuppen ab. Und wenn der Geist nicht stark genug ist, müssen wir uns Stücke, wie zum Beispiel die Fingernägel, abschneiden, weil der Geist sie, von außen kommend, saugend zerstören will.“[5]
Anthroposophie macht frei
Verantwortlich für die „Thementage Menschenkunde“ der Alanus Hochschule ist Prof. Dr. Jost Schieren, Professor für Schulpädagogik mit Schwerpunkt Waldorfpädagogik.
Im Interview mit dem „Waldorfblog“[6] tritt Schieren als „Werber“ für die Waldorfpädagogik auf[7], verwendet immer wieder das buzzword „Freiheit“ – in einer einzigen Antwort erstaunliche 7 mal:
„Die Anthroposophie ist im Kern auf das Ideal des freien Menschen ausgerichtet.“
„Freiheitsentwicklung als Teil des Weltgeschehens“
„Freiheitsentfaltung unseres Menschseins“
„Position der Freiheit“
„Begriff der Freiheit“
„Entwicklungsraum der Freiheit“
„freien Persönlichkeitsentwicklung“
Für Schieren macht einfach alles frei, was Anthroposophie ist. Wie die Waldorfpädagogik, die auf der Anthroposophie Rudolf Steiners (1861 – 1925) basiert.
Über einen Vortrag Rudolf Steiners sagt Kurt Tucholsky: „Je größer der Begriff, desto kleiner bekanntlich sein Inhalt – und er hantierte mit Riesenbegriffen.“[8]
„Freiheit“: mit diesem Riesenbegriff macht Jost Schieren Werbung für die Waldorfpädagogik.
Reinkarnation macht frei
Beim Werber Jost Schieren ist „Reinkarnation“ normal, wird zu einer weiteren „Sichtweise auf den Menschen“, die – Verkaufsargument! – von „Fremdbestimmung“ befreit:
Der Gedanke der Reinkarnation erlaube es, so Jost Schieren, „den Menschen nicht als irgendwie allein fremdbestimmtes Wesen (Gene, Sozialisation, Gehirnprägungen usw.) zu denken.“ Das Kind sei nicht das alleinige Resultat von Vererbung und Umgebung, sondern trage in sich „eine eigene auf sich selbst begründete Persönlichkeit“, die nicht zufällig entstanden sei, da „der Mensch sein eigenes Wesen selbstverantwortlich durch eine Reihe von Verkörperungen selbst bildet.“
Doch was bedeutet „Reinkarnation“ überhaupt? Und bei Rudolf Steiner?
Weit verbreitet ist die Idee im asiatischen Kulturkreis, im Hinduismus und den verschiedenen Erscheinungsformen des Buddhismus. Gemeinsam ist ihnen, daß das Ziel ist, dem „endlosen Kreislauf der Wiedergeburten“ zu entkommen, sich von der Fessel des „Karma“ zu befreien.
Helena Petrovna Blavatsky und in ihrer Nachfolge Rudolf Steiner kehren die Idee in ihr Gegenteil um: Der Mensch soll im Kreislauf der Wiedergeburten bleiben, so kann er sich – und damit die Menschheit – perfektionieren. Das bedeutet: Pflichterfüllung. Von „Freiheit“ keine Spur.
Rudolf Steiner verspricht eine Form der (geistigen) Unsterblichkeit und befriedigt zugleich das Bedürfnis seiner – zur Zeit der Begründung der Anthroposophie – aristokratischen und großbürgerlichen Klientel nach „Elite“: „WIR bringen die Menschheit (-sentwicklung) voran!“
Und natürlich kann die Menschheit auch nicht an einem Tag an Ihrem Bestimmungsort, dem Planeten „Vulkan“[9], ankommen – dann wäre Steiners Geschäftsmodell sofort erledigt …
Grundkenntnisse der Philosophie, Religion und Geschichte sind nicht erforderlich, wenn man Professor einer anthroposophischen Hochschule ist. Es reicht, wenn man aus Steiners uraltem Esoterik-Baukasten eine Pädagogik bastelt, die nach aussen hin „neu“ erscheint.
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Weitere Artikel zu „100 Jahre Waldorfschule 2019“:
“Die Waldorfschule als Bekenntnisschule“, von Prof. Klaus Prange
„Rudolf Steiners ‘survival of the whitest’“, Geschichte in der Waldorfschule, Andreas Lichte
“Die Golems – und wie sie in die Welt kommen“, Kunst in der Waldorfschule, Andreas Lichte
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[1] „Thementage Menschenkunde“ – https://www.thementage-menschenkunde.de/ – Abruf am 21.5.2018
[2] Heinrich Zimmer, „Philosophie und Religion Indiens“, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 26, Suhrkamp Verlag, Erste Auflage 1973
[3] „Mit Schlingenmalen zum Schreiben finden“, Lisa Aigner, derStandard.at, 5. Juni 2011
[4] „Man kann nicht nur ein ‚bisschen‘ Waldorf sein“, Ruhrbarone, 11.9.2011
[5] Rudolf Steiner, „Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik“, GA 293, S. 93 f.
[6] „Waldorf heute: Vom ‚Eingeweihtenwissen‘ zum ‚akademischen Diskurs‘? Ein Interview mit Jost Schieren“, Waldorfblog, 21. März 2016
[7] die folgende Textpassage ist ähnlich veröffentlicht in: „Prof. Jost Schieren, Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft: Der Waldorf-Werber“, Humanistischer Pressedienst, 5.4.2016, https://hpd.de/artikel/waldorf-werber-12931
[8] Kurt Tucholsky, „Rudolf Steiner in Paris“, Die Weltbühne, 03.07.1924, Nr. 27, S. 26.
[9] Die Menschheit entwickelt sich laut Rudolf Steiner auf sieben Planeten. Von Planet zu Planet steigt das Menschengeschlecht höher in der Entwicklung: Saturn, Sonne, Mond, Jupiter, Venus und zuletzt der Vulkan … siehe auch: „Rudolf Steiners rassistischer Science-Fiction-Trash: Aus der Akasha-Chronik“, Humanistischer Pressedienst, 5.1.2015, https://hpd.de/artikel/10883