Peter Bürger: „Nellius – immer absurder“ – Revisionistische Erinnerungspolitik – ohne blassen Schimmer von der Geschichte des kölnischen Sauerlandes

Maria Autsch
Ein echtes Vorbild: Maria Autsch, „Die Nonne von Ausschwitz“ (foto: ***)

Seit zwei Tagen nimmt die Nellius-Debatte immer absurdere Formen an. Nur die substantiell wichtigsten 30 Seiten der neuen, frei im Internet abrufbaren Studie scheinen dabei keine Rolle mehr zu spielen.

(Gastbeitrag von Peter Bürger, siehe auch hier im Blog)

Seit gestern wird von uns Forschenden verlangt, Georg Nellius mindestens als direkten Massenmord-Mittotschläger vorzuführen, obwohl wir doch nur 23 Forellen als Mordopfer vorweisen können, die wegen seines Zorns über „Vollblutjuden“-Musik im Radio dran glauben mussten. Grotesker kann es wirklich nicht mehr werden … Die Verharmlosung von rassistischem Antisemitismus, die sich im „Urteil“ über die neuen Forschungserkenntnisse offenbart, beunruhigt mich zutiefst.

Der als Nellius-Rechtfertigung angeführte Verweis auf die aktuelle Ausgabe des „Spiegels“ (Nr. 6/2014, S. 46) sollte sich für jeden denkenden Menschen als Vergleich von selbst erledigen. Der Verweis auf den Plötzensee-Inhaftierten Heinrich Lübke ist geradezu perfide, denn selbst der Historiker Jens-Christian Wagner bescheinigt Lübke in seiner denkbar kritischen Arbeit, im Gegensatz zur großen Mehrheit der Bevölkerung mit der NSDAP nie etwas im Sinn gehabt zu haben. Heilig kann man den Bundespräsidenten aus dem Sauerland heute nicht mehr sprechen, aber man erspare uns, ihn mit Nellius zu vergleichen!

Auch Christine Koch, die dem Dritten Reich zeitweilig sehr zugetan war, lässt sich als entlastender Vergleich zu Nellius nicht anführen: Nicht die kleinste Spur für Antisemitismus gibt es bei ihr (es war der Dichterin „ein guter Jude lieber als ein schlechter Christ“). Als Anwältin der Menschen auf der Straße („Kötten“ sowie Roma und Sinti eingeschlossen) tritt sie in Dichtung und Lebenspraxis hervor: Die Ausgestoßenen und Verachteten, sie alle haben „Menschenrecht – mit Gottes Siegel als Schutz und Riegel“! Christine Kochs bereitwillige Anpassung an die sogenannte „neue Zeit“ darf keiner vertuschen oder verharmlosen. Aber eine NSDAP-Frau oder Antisemitin war diese von Josefa Berens als naiv-fromm betrachtete Katholikin ganz sicher nicht!

Auftakt zur Geschichtsaufarbeitung in den 1980er Jahren

Im Hochsauerland hat als Pionier eigentlich erst der CDU-Mann Ulrich Hillebrand aus Meschede eine kritische Erforschung der NS-Zeit systematisch angepackt. Als Freund hat er mir die Augen geöffnet, wie groß die Verdrängung all die Jahrzehnte gewesen sein muss. Ulrich war bei den Forschungen schon krebskrank; ein Auszug der Arbeiten ist erst nach seinem Tod als Buch „Das Sauerland unterm Hakenkreuz“ (1989) erschienen. Wegbereiter und frühe Parteizellen der NSDAP werden hier – mit durchgehender Namensnennung – für den Altkreis Meschede dargestellt. So mancher Dorfchronik in der Landschaft täte es noch immer gut, heute um ähnliche Kapitel bereichert zu werden.

1988 erschien der Katalog zur Ausstellung „Das Hakenkreuz im Sauerland“ des Museums in Schmallenberg-Holthausen. Der Museumsvorsitzende Rötger Belke-Grobe hatte das „größte Verbrechen des Hitler-Regimes“ – „die Ermordung der Juden“ – im Auge. Aber er wollte als CDU-Politiker und Anti-Linker auch vermitteln, dass es bei aller Anpassungsbereitschaft in den Dörfern des kölnischen Sauerlandes doch auch eine Besonderheit gab: die zahlreichen Anti-Nazis besonders im kirchlichen Bereich und aus der alsbald kaltgestellten katholischen Zentrums-Partei. Ich selbst bin durchaus kein Anhänger der CDU, bei der ich als Jugendlicher allerdings eine solide demokratische Grundausbildung mit sozialer Ausrichtung erhalten habe. Ich würde jedoch jederzeit mit Herzblut im Sinne Belke-Grobes ein sauerländisches Geschichtskapitel schreiben, dass die antifaschistischen Vorbilder aus der CDU-Vorläuferpartei Zentrum würdigt. Hier geht es wirklich um eine Besonderheit der katholischen Landschaft, mithin unbedingt um eine Frage von „Sauerlandpatriotismus“.

Wie strohdumm und ignorant wäre es demgegenüber, wenn man heute noch immer die 1933-1944 von den Nazis propagierten „Sauerlandgrößen“ Maria Kahle, Josefa Berens-Totenohl oder Georg Nellius verteidigt oder öffentlich auf Straßenschildern ehrt. Diese rechtsextremistischen Antisemiten waren schon in der Weimarer Republik Gegner jener Vorbilder, auf die wir stolz sein könnten. Sie haben unserer Landschaft zur Zeit des Faschismus wahrlich keine Ehre bereitet – sondern Schande.

FDP-Politiker Dieter-Julius Cronenberg 1988 – Geschichte der Juden

Schirmherr der Holthausener Ausstellung von 1988 war übrigens der FDP-Politiker Dieter-Julius Cronenberg, damals Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Im Geleitwort zur Ausstellung schrieb er als Vertreter des antifaschistischen Konsenses aller Demokraten: „Es geht um den Versuch, in regionalem Rahmen das Geschehen zwischen 1933 und 1945 im kurkölnischen Sauerland zu klären. Dafür gibt es zwei Anlässe. Zum einen erschien 1938 die Gaugeschichte Westfalen-Süd unter dem Titel „Kampf und Sieg“. Zum anderen jährt sich zum 50. Mal das Judenpogrom des 10. November 1938. Die geschönte Parteihistorie steht im bewussten Gegenüber zur Tatsache, dass auch bei uns im Sauerland die jüdischen Mitbürger verfolgt und ihre Synagogen eingeäschert wurden …“.

Ich will mich nicht festlegen, aber ich glaube: Die Fülle der von unermüdlichen Lokalforschern des Sauerlandes in den letzten 25 Jahren vorgelegten Beiträge zur Geschichte der Juden in unserer Landschaft ist vorbildlich. Die vielen – fast durchgehend ehrenamtlich forschenden – Autoren haben sich berühren lassen: sechs Millionen Juden wurden ermordet, und viele von ihnen haben vor der Deportation eben auch in unseren Dörfern und Straßen gelebt. Diese Heimatforscher haben gewusst, dass die Erinnerung an die Shoa unser Geschick als Menschen so sehr betrifft, dass es in keiner Generation ein Vergessen geben darf. Auch ihr Werk ehrt die sauerländischen Gemeinwesen!

Einige Streiter, die sich jetzt im Rahmen der Nellius-Debatte zu Wort melden und kritische Forschungen auf das Format eines kleinen „Zusatztäfelchen“ mit ein oder zwei Sätzen zurechtstutzen wollen, sollten bedenken, dass sie damit einer Verharmlosung von Judenfeindlichkeit – möglicherweise auch wider Willen – den Weg bereiten.

Paul Tigges: Jugendjahre unter Hitler – Jahrzehnte der Verdrängung

Als Pionier sauerländischer Faschismus-Forschung ist noch unbedingt der in Fredeburg geborene Paul Tigges (1922-2006) zu nennen. Er war in Lennestadt CDU-Kommunalpolitiker und Leiter des kath. Gymnasiums „Maria Königin“. Mit seinem Buch „Jugendjahre unter Hitler“ (1984) schenkt er uns Einblicke in die Erfahrungen einer widerständige Generation junger sauerländischer Katholiken, die er 2003 zusammen mit dem Arnsberger Pax-Christi-Mann Karl Föster auch im Werk „Katholische Jugend in den Händen der Gestapo“ erschlossen hat. An Tigges kommt keiner vorbei, der im Sauerland den Blick auf die Jahre 1933-1945 nicht für nutzlose „Staubwedelei“ hält. Durchaus im Sinne Belke-Grobes betont er als Heimatpatriot das Besondere, die Unangepasstheit des katholischen Milieus. Aber – aus eigener Anschauung – kennt er auch die Lügen nach 1945. Die willige Zusammenarbeit mit den Nazis, die Kollaboration aus Schwäche oder Eigennutz, will er nicht verschweigen.

Diesbezüglich findet man viele interessante Kapitel in seinem Buch „Die Nonne von Auschwitz“ (1992). Verschlüsselt – für Kenner der Literatur aber zumindest teilweise entschlüsselbar – schildert Tigges darin gleich am Anfang die Entwicklungsgeschichte der oben genannten Holthausener Ausstellung von 1988. Da will gar jemand ganz vorne mitmischen, der als Schüler „markige Sprüche von Glauben und Führer“ geklopft hat. Das gefällt Tigges nicht. Bezeichnend ist, welche Angst der Autor noch 1992 hatte, Namen zu nennen.

Mit seiner Dissertation „Katholische Milieu und Nationalsozialismus“ (1993) hat Arnold Klein aufgezeigt, dass das unangepasste kölnische Sauerland keineswegs per se schon widerständig war (auch die katholischen Märtyrer waren eben Ausnahmen). Eingelöst wären die Forderungen von Tigges erst, wenn sich eine kritische Arbeit noch weitgehender das bereitwillige Mittun in der „neuen Zeit“ unter die Lupe nimmt. Soviel steht fest: Die sauerländischen Nazis kam nicht von einem anderen Stern und waren zumeist auch römisch-katholisch. Es gab deutliche Unterschiede von Dorf zu Dorf – und es gab im Vergleich sogar ausgesprochen „braune Dörfer“ mit schwarzer Tünche.

Das Buch „Die Nonne von Ausschwitz“ von Paul Tigges handelt übrigens von der Ordensfrau Maria Autsch, die am 23.12.1944 im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau gestorben ist. Wenn in ihrer sauerländischen Herkunftsheimat die Kommunalpolitiker so wach sind wie in Eslohe, Olsberg, Sundern oder Arnsberg, dann wird es in Finnentrop auf Antrag einer „FÜR“-Fraktion bald – statt der Kahle- oder Berens-Straße – eine Maria-Autsch-Straße geben (sowie ebenfalls ein Straßenschild mit dem Namen des in Finnentrop-Lenhausen geborenen Alexander Haindorf, dem berühmtesten Juden unserer Heimat). Überfällig wie nur irgendetwas, mehr kann man dazu nicht sagen …

Die Forschungen sind noch lange nicht am Ende angelangt

Dass auch im Sauerland Sozialdemokraten und kommunistische Arbeiter mit zu den ersten Opfern des nationalsozialistischen Terrors gehört haben, erfährt man eigentlich erst aus dem Buch „Widerstand gegen die Nationalsozialisten im Sauerland“ (2003) von Ottilie Knepper-Babilon und Hannelie Kaiser-Löffler. Zu wünschen wäre, dass Christdemokraten und Sozialdemokraten im Sauerland beim Thema „Widerstand“ noch etwas mehr Liebe in die historische Erhellung der eigenen Parteigeschichte investieren – und sich bei der Straßennamendebatte vom wachen Interesse in Ortsvereinen der „Grünen“ ein wenig anstecken lassen.

Einige Pionierarbeiten sind genannt. Am Ende sind die sauerländischen Forschungen über die Zeit des Faschismus heute noch lange nicht angelangt. Die Verdrängungen und Verdrehungen vieler Jahrzehnte waren einfach zu hartnäckig.

Dr. Bodo Thieme, ein bienenfleißiger Historiker im Kreis Olpe, hat mit seinem Buch „Herbert Evers – Landrat des Kreises Olpe“ (2001) ein äußerst erhellendes Exempel dargestellt, dessen Lektüre u.a. auch zum besseren Verständnis der aktuellen Nellius-Debatte von großem Nutzen sein könnte: Durch seine freundliche Art, ein kluges öffentliches Auftreten und seine anhaltende Mitgliedschaft in der römisch-katholischen Kirche konnte der schon am 1.11.1930 in die NSDAP eingetretene Landrat Evers sich im „schwarzen Kreis Olpe“ das Image erwerben, zu den sogenannten „guten Nationalsozialisten“ zu gehören. Die Nachkriegsbemühungen dieses ehemaligen SA-Obersturmbannführers um „Rehabilitierung“ waren am Ende so erfolgreich, dass man ihn am 23. April 1954 – geheim und ohne Gegenstimmen (!) – zum Stadtdirektor von Neheim-Hüsten wählte. Erst Thiemes mühselige Forschungen in Archiven haben das später noch sehr lange erhaltene Bild vom gutmütigen, heimatliebenden „Mitläufer“ entlarvt. Der ehemalige Schriftleiter des „Sauerländischen Volksblattes“ behauptete z.B. nach 1945, Evers habe ihn bezogen auf einen Artikel gegen Judenboykott im März 1933 gedeckt, doch da war – wie peinlich für den Leumundszeugen – der Genannte noch gar nicht Landrat in Olpe! In anderen Entlastungszeugnissen zur „Entnazifizierung“ wurde Herbert Evers z.B. als Empörer wider die „normwidrigen“ Gräuel an Juden im Rahmen der Reichspogromnacht dargestellt, doch im nichtöffentlichen Verwaltungsgeschäft hat der ab 1935 militante Antisemit zielstrebig sein Projekt eines „judenfreien Kreises Olpe“ verfolgt. Als entlastend wirkte im katholischen Milieu nach 1945 seine scheinbar ungebrochene Treue zur Kirche, während der Landrat in Wirklichkeit unbequem predigende Priester der Geheimen Staatspolizei gemeldet und einen Pastor der Bekennenden Kirche denunziert hatte …

Links zur aktuellen Nelliusdebatte:

  • „Georg Nellius (1891-1952). Völkisches und nationalsozialistisches Kulturschaffen, antisemitische Musikpolitik, Entnazifizierung. – Darstellung und Dokumentation im Rahmen der aktuellen Straßennamendebatte.“ Vorgelegt von Peter Bürger und Werner Neuhaus in Zusammenarbeit mit Michael Gosmann (Stadtarchiv Arnsberg). Arnsberg/Eslohe 2014. http://www.sauerlandmundart.de/pdfs/daunlots%2069.pdf
  • Bürger, Peter: „Juden- und Thomas-Mann-Todfeind“. Der Nazi-Musiker Georg Nellius kam 1948 fast schneeweiß aus der „Entnazifizierungs“-Waschanlage heraus. Im Nachlass ist sein antisemitischer Aktivismus dokumentiert. In: Telepolis, 03.02.2014. http://www.heise.de/tp/artikel/40/40909/1.html

***Bildnachweis und Erläuterungen zu Maria Autsch: http://de.wikipedia.org/wiki/Angela_Autsch

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