Fragmentarische Überlegungen zur Bedeutung des Zinsverbots für den modernen Antisemitismus

WordleAntisemitismus(Der vorliegende Beitrag von Dr. Werner Jurga erweitert den gestern erschienenen Artikel „Auf schmalem Grat: Antisemitismus im Briloner Anzeiger?“ um einige allgemeine Erläuterungen, Überlegungen und Hinweise.)

Die Theokratie wollte den Siegeszug des Kapitalismus von Beginn an verhindern und ist mit ihm – bei aller Kumpanei – bis heute nicht so richtig warm geworden. Wäre es ihr gelungen, die Herausbildung eines Bankensystems zu verhindern, Kreditketten erst gar nicht entstehen zu lassen: der Kapitalismus hätte sich nicht herausbilden können. Eine moderne Welt wäre verhindert worden. Hätte, hätte, Fahrradkette? Ein theoretisches Hirngespinst?

In einem Sechstel der Welt sehen wir, dass dies tatsächlich so funktioniert. In der islamischen Welt. Das Zinsverbot „gilt“ – jedenfalls theologisch. Wie gesagt: es führte zu weit, dies im einzelnen zu analysieren. All die „Umgehungstatbestände“ und Sonderfälle. Die Türkei, ein so gut wie entwickeltes kapitalistisches Land – in dem westliche Konzerne sogar Autos bauen lassen. Die ölreichen Theokraten auf der arabischen Halbinsel. Das vorübergegangene Erblühen des Libanon.

Insgesamt kann aber gesagt werden, dass das in der islamischen Welt (irgendwie) existierende Zinsverbot zu einer umfassenden und verheerenden ökonomischen Entwicklungsblockade geführt hat und führt. Ein gigantisch großes sozialistisch-kommunistisches Staatensytem mit einem de-facto-Zinsverbot nach innen bricht trotz wenig zimperlicher polizeistaatlicher Führung zusammen, weil die wenig attraktive säkulare Herrschaftsideologie nicht die ökonomische Entwicklungsblockade zu legitimieren vermag.

Allah war und ist da stärker. Der strafende, erbarmungslose Gott, der die Gläubigen in Unmündigkeit und Angst hält, und sich darum kümmert, dass sie ihr Begehren nach allem Möglichen, besonders aber danach, Geld verdienen zu wollen, im doppelten Wortsinne „zu handeln“, bereitwillig selbst unterdrücken – herrscht noch heute in der islamischen Welt. Er hatte auch im Mittelalter im christlichen Europa das Regiment geführt… und in langen, schweren Kämpfen verloren. Nicht der einzige, aber der entscheidende Punkt war, dass die Juden das Zinsverbot faktisch ausgehebelt hatten.

Die Herrschenden hatten diese – aus unserer heutigen Sicht – polit-ökonomische Binse schlichtweg unterschätzt. Erstens, weil sie keinen Begriff davon hatten, was Kapitalismus und bürgerliche Gesellschaft überhaupt sein könnten, und dass es so etwas – von dem sie keinerlei Vorstellungen haben konnten – überhaupt jemals geben könnte. Verglichen damit sind die heutigen muslimischen Theokraten echt im Vorteil.

Zweitens, sozusagen die andere Seite der Medaille: man glaubte wirklich selbst daran, dass die Juden, denen das Himmelreich ohnehin versperrt bleiben würde, “sich die Finger schmutzig machen“, während man selbst enorm von der Etablierung eines Kreditsystems profitierte: a) die Wirtschaft floriert, b) man selbst kommt trotzdem in den Himmel, c) an den absehbaren und, wie wir wissen, unvermeidbaren „sozialen Härten“ der Entwicklung „auf Pump“ (hierzulande noch heutzutage politisch-korrekter Sprachgebrauch) ist der Jude schuld, der d) als geschlossene Gruppe in Erscheinung tritt, die sichtbar, böse und anders ist.

Dieser relativ moderne Antisemitismus hatte fürs „nation-building“ eine wichtige, ja fundamental bedeutsame Funktion: die Konstituierung der bürgerlichen Nation gegen die Juden. Der Begriff „Nation“ muss definiert, also abgegrenzt werden. Es kann nur ein „Wir“ geben, wenn es „Andere“ gibt. Die „Anderen“ müssen aber sichtbar sein; Erzählungen und / oder zufällig auftauchende Einzelne reichen nicht aus, um einen kollektiven Mythos der Identität begründen zu können.

Begriffe wie „Franzosen“, „Polen“, „Schweden“ hatten, je länger der Dreißigjährige Krieg zurückgelegen hatte, zunehmend ihren realen Charakter verloren. Geschichten aus grauer Vorzeit über „far far away“. Dem einfachen Volk wären weite Reisen in friedlicher Absicht dorthin, was wir heute „Ausland“ nennen würden, schon aus ökonomischen Gründen unmöglich und unvorstellbar gewesen.

Juden dagegen gab es wirklich. Und sie waren wirklich anders. Viele der Sichtbaren waren relativ wohlhabend, weil sie Ärzte waren oder Geschäfte machten. Das Eine wie das Andere – teilweise bitter nötig und segensreich, immer aber undurchschaubar, mysteriös und riskant. Will heißen: wenn etwas schief ging, ziemlich unerfreulich für die Patienten oder Kunden.

Die Juden waren insofern prädestiniert, die für den Prozess des „nation-building“ gleichsam unabdingbare Rolle des inneren Feindes einzunehmen. Schließlich standen die gesellschaftlichen Funktionen, also die „Berufe“, in die „der Jude“ durch jahrhundertelange Ausgrenzung und Diskriminierung abgedrängt worden war, mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft scheinbar „hoch im Kurs“.

„Der Jude“ hatte – tatsächlich oder vermeintlich – das, was in der neuen Gesellschaft die Geheimnisse sozialer Stellung bzw. Aufstiegs waren: Geist und/oder Geld. Mithin die beiden Attribute, nach denen der „kleine Mann auf der Straße“ sich nur sehnen und von denen der zu Stand und Status gekommene Bürger nie genug bekommen konnte.

Der Zerfall und schließlich die Aufhebung des christlichen Zinsverbots zu Beginn des 19. Jahrhunderts konnten nichts daran ändern, dass die gesamte – in heutiger Sprache formuliert – Kreditwirtschaft von Juden dominiert wurde. Damit war garantiert, dass auch nach Beendigung des „nation-building“-Prozesses der Antisemitismus nicht nur auf christliche Mythen und säkulare Verschwörungslegenden zurückgreifen konnte, sondern scheinbar auch eine reale ökonomische Basis hatte.

Dr. Werner Jurga