Mexico: „Was kann ich denn dafür, wenn ich Drogen zu den verhassten Gringos schmuggle? Was kann ich denn dafür, dass mir der Typ direkt vor die Knarre lief?“

Hier verbringt Rodrigo gerne seine Nächte - leider singenderweise. Tagsüber wäscht er auch schon mal seine Wäsche den Wasserbehältern vorne im Bild. Die ja eigentlich für die Wasserversorgung im Haus bestimmt sind. (fotos: koerdt)
Hier verbringt Rodrigo gerne seine Nächte - leider singenderweise. Tagsüber wäscht er auch schon mal seine Wäsche den Wasserbehältern vorne im Bild. Die ja eigentlich für die Wasserversorgung im Haus bestimmt sind. (fotos: koerdt)

Dieser Artikel ist der 15. Teil einer persönlichen Serie über das Leben in Mexico und Mexico-City. Heute fährt die Autorin Taxi und macht sich viele Gedanken über das „Prinzip Verantwortung“. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen.

¡Hola a todos!

„Unsere mexikanischen Ahnen glaubten weder, der Tod gehöre ihnen, noch glaubten sie, ihr Leben sei wirklich – im christlichen Sinne des Wortes – ihr Leben. Alles verband sich, um gleich bei der Geburt Leben und Tod eines jeden Menschen festzulegen: soziale Zugehörigkeit, Ort, Jahr, Tag und Stunde der Geburt. Der Azteke war ebenso wenig verantwortlich für seine Taten wie für seinen Tod.“

Octavio Paz
„Über die Fiesta und den Tod“
in: „Das Labyrinth der Einsamkeit“ (1950)

Betrachtet man heute die beherrschenden Ereignisse im Norden des Landes, mag der Essay des mexikanischen Autoren und Literaturnobelpreisträgers von 1990 einen Zugang bieten, um das schier Unverständliche aus dem eurozentrisch geschulten Blick verständlicher zu machen. Man gewinnt den Eindruck, dass sich seit Hernán Cortés‘ blutiger Conquista und der Eroberung Tenochtitlans (dem heutigen Mexiko-Stadt) im Jahre 1521 das Verhältnis zur Verantwortung wenig geändert hat. Was kann ich denn dafür, wenn ich Drogen zu den verhassten Gringos schmuggle? Was kann ich denn dafür, dass mir der Typ direkt vor die Knarre lief? Was kann ich denn dafür, dass mir der Boss sagt, ich soll ihm auch noch den Schädel absäbeln? Ja, was kann ich denn dafür?

Sieht eigentlich ganz friedlich aus: der hiesige Taxistand vor dem Supermarkt. Aber manchmal kommen die dortigen Taxifahrer auf komische Ideen, um an ihr Geld zu kommen.
Sieht eigentlich ganz friedlich aus: der hiesige Taxistand vor dem Supermarkt. Aber manchmal kommen die dortigen Taxifahrer auf komische Ideen, um an ihr Geld zu kommen.

Als ich am vergangenen Freitag ein Taxi bestieg, um zum jährlichen Schulball zu gelangen, gab mir der Fahrer nach der Anfahrt zu verstehen, dass er nur ungefähr wisse, wohin ich denn wolle. Die Straße kenne er, aber er wisse nicht, wo genau das „Casino de Bosques“ sei. Ich hatte die Adresse inklusive der Hausnummer 500, so dass ich darin überhaupt kein Problem sah. Dass es doch eins wurde, wie ich feststellen musste, lag daran, dass die Mexikaner wohl ein eher lockeres Verhältnis zu ihren Hausnummern auf dieser Straße pflegen. Nach 748 kam 656 und dann 438. Doch keine 500. Nachfragen an die ortskundigen Mitmenschen am Straßenrand führten dann dazu, dass wir sämtliche Restaurants im naheliegenden Chapultepec-Park abfuhren. Alle Versuche Kollegen au ihren Handys zu erreichen, endeten auf deren Mailboxen.

Nach knapp zwei Stunden Herumgeirre landeten wir in einen Stau. Dort fragten wir wieder einen netten Mitmenschen und der sagte voller Überzeugung, das Casino sei direkt um die Ecke. Nur bei diesem Stau sei es doch sinnvoller, eben zu Fuß dahin zu gehen. Daraufhin bog der Taxifahrer aus dem Stau heraus in eine Seitengasse und ich wollte aussteigen. Da wir ja ewig lange unterwegs waren, dachte ich, es sei ja total nett von mir, wenn ich ihm ein paar Pesos mehr als den ausgehandelten Fahrpreis gäbe. Doch er verlangte noch einmal 100 Peso mehr. In meiner Verwegenheit sagte ich „nö“. Nur leider hatte ich schlechte Karten, denn die Türen waren automatisch abgeriegelt und ich kam nicht heraus. Und als er dann auch noch anfing in seinem Handschuhfach herumzukramen (kurz vorher hatte er auch noch mit dem Handy eine SMS abgesetzt), wurde es mir doch ein wenig mulmig und ich konnte ihm seine Bitte, den Fahrpreis einfach ‚mal um 120% zu erhöhen, nicht mehr abschlagen. Er entriegelte daraufhin auch sofort die Türen und ich sah zu, dass ich Land gewann. Ich brauche wohl nicht erwähnen, dass das Casino um die Ecke das falsche war. In der Zwischenzeit konnte ich aber endlich eine Kollegin telefonisch erreichen, die mir den Weg erklärte. So ging ich zum nächsten Taxistand und war in 15 Minuten am Veranstaltungsort.

Ja, wer ist denn dafür verantwortlich? Hier im Viertel wählte man die Straßennamen nach ausländischen Dichtern und Denkern. Doch wenn dann mal drei Namen zusammenkommen, kann es schon kompliziert werden. Außerdem wird es die Dänen allgemeinhin nicht freuen, dass hier jeder den Herrn Hans für einen Deutschen hält.
Ja, wer ist denn dafür verantwortlich? Hier im Viertel wählte man die Straßennamen nach ausländischen Dichtern und Denkern. Doch wenn dann mal drei Namen zusammenkommen, kann es schon kompliziert werden. Außerdem wird es die Dänen allgemeinhin nicht freuen, dass hier jeder den Herrn Hans für einen Deutschen hält.

Der Witz bestand einfach darin, dass er einfach auf der anderen Straßenseite hinter einer Mauer lag (von der ich dachte, sie würde noch zum daneben befindlichen Friedhof gehören) und von der Straße aus nicht sichtbar war. Außerdem funktioniert dort einfach nicht das Prinzip, dass auf der einen Seite die geraden und auf der anderen die ungeraden Zahlen sind. So einfach war das. Warum ich dann am Eingang so angeglotzt wurde, habe ich zunächst auch nicht verstanden. Hatte meine Kollegin bereits den Türstehern mitgeteilt, dass gleich eine kommt, die eine Taxi-Odyssee hinter sich hat und womöglich etwas verwirrt wirkt? Im Saal irrte ich durch die Reihen auf der Suche nach ihr. Endlich erspähte ich sie in einer Ecke mit einem weiteren Kollegen. Und erst als ich stillstand, verstand ich, warum ich alle Blicke auf mich gezogen hatte. Ein Träger an meinem Kleid war gerissen und damit lief ich quasi halbfrei durch die Gegend (zum Glück mit BH). Eine Sicherheitsnadel hat mir dann noch den Abend gerettet.

Am nächsten Tag ging ich zum Taxistand, von dem ich den Abend vorher losgefahren bin. Natürlich fühlte sich keiner dafür verantwortlich. Im Gegenteil: schließlich musste der Kollege doch zusehen, dass er sein Geld bekommt.

Verantwortlich fühlte sich scheinbar niemand hier im Haus für die Wasserpumpe, als wir im letzten Jahr hier einzogen. Daraufhin beauftragte Christopher einen Klempner und nach einigem Hin und Her stimmte der Wasserdruck auch wieder. Nun stand auf einmal in der letzten Woche mein Nachbar aus der über uns liegenden Wohnung abends vor unserer Tür. Ob Christopher da sei? „Nö“, meinte ich. Dann bekam ich 400 Peso (rund 25 Euro)  in die Hand gedrückt, er wolle sich bedanken. Wofür? Na ja, mit dem Wasserdruck, darum hätte Christopher sich doch gekümmert. Jaja, schon, aber das ist doch schon lange her. Er hätte das nicht gewusst und jetzt erst von der „Person“ erfahren. Die „Person“ heißt Rodrigo und wohnt ebenfalls in der Wohnung über uns. Anfangs dachte ich, Rodrigo sei Student und wohne dort mit seiner Mutter und seiner Großmutter. Irgendwann einmal waren die Frauen weg, nur Rodrigo blieb. Und wie er blieb: Er verlässt nämlich eigentlich nie das Haus und singt zu jeder Tages- und Nachtzeit Kirchenchoräle und -kantaten. Kurzum: Rodrigo macht überhaupt nichts außer beten und singen.

Nun war an diesem Abend endlich mal die Gelegenheit den Señor zu fragen, in welchem Verhältnis er eigentlich zu Rodrigo stünde. Ist das der Sohn seiner ehemaligen Lebensgefährtin, sein Neffe oder wer ist er? Er stünde in überhaupt keinem Verhältnis zu dieser Person, wie er mir dann in vollem Brustton erklärte. Er sei auf einer längeren Geschäftsreise gewesen und hätte einen Bekannten gebeten, in der Wohnung nach dem Rechten zu sehen. Als er wiederkam, waren fünf Leute in der Wohnung. Von seinem Bekannten hat er nie wieder etwas gehört. Die Leute verschwanden dann auch wieder nach und nach. Nur Rodrigo blieb. So sei das eben in Mexiko, erklärte er mir lapidar. Er schüttelte seinen Kopf, als ich ihn fragte, ob Rodrigo denn einen Vertrag hätte und Miete zahlen würde. Daraufhin schlug ich ihm vor, er müsse doch nur mal abwarten, dass Rodrigo das Haus verlasse (ab und an hatte er jedenfalls in der Vergangenheit Kirchenchor-Proben). Dann solle er schnell dessen Sachen zusammenpacken und das Türschloss auswechseln. Mhmm, auf die Idee sei er noch gar nicht gekommen und bedankte sich bei mir für diesen grandiosen Vorschlag.

Mir wäre das wirklich ganz recht, schließlich verbringt Rodrigo so manche Nacht auf dem Flachdach (wenn er dem Señor nicht begegnen möchte) und schmettert dort herum. Dafür kann Rodrigo bestimmt nichts. So ist das wohl mit der Verantwortung in Mexiko.

Das ist ein Abstellraum auf unserem Flachdach, den Rodrigo liebevoll gestaltet hat. Die Zeilen links bedeuten:  "Oh Jesus, ich liebe dich meine Festung Jesus, mein Fels mein Schloß und mein Befreier Mein Gott, meine Festung der ich vertraue Mein Schutzschild, und die Stärke  meiner Rettung, mein höchster Schutzort."
Das ist ein Abstellraum auf unserem Flachdach, den Rodrigo liebevoll gestaltet hat. Die Zeilen links bedeuten: "Oh Jesus, ich liebe dich meine Festung Jesus, mein Fels mein Schloß und mein Befreier Mein Gott, meine Festung der ich vertraue Mein Schutzschild, und die Stärke meiner Rettung, mein höchster Schutzort."

Und als mich kürzlich ein Kollege fragte, wer denn dafür verantwortlich sei, dass eine Straße plötzlich ohne Vorwarnung durch eine Betonkante beendet wird (die ja unseren Unfall verursacht hat), konnte ich auch nur schmunzeln – der Verkehrsminister, die Straßenwacht das Städtchen El Progeso? – und mich weiterhin darüber wundern, warum überhaupt das Wort „responsibilidad“ hier existiert.

Dieser Text entstand übrigens in voller Eigenverantwortlichkeit. Wer nichts mehr von mir lesen möchte, kann sich vertrauensvoll an mich wenden. Aber dann selbst die Verantwortung dafür tragen, wenn ich beleidigt reagieren werde.

Ich hoffe, euch allen geht’s gut und ich lese oder höre auch ‚mal wieder ‚was von euch.

Muchos saludos desde México,
Marion

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