Abenteuer Antiquariat: Die USA aus europäischer Sicht

Oklahoma (aus Holitscher 1912)

In den USA war ich nie und werde ich nie sein. Aber ich habe, neben meiner unrettbar USA-dominierten Musiksammlung, drei USA-Ecken in meinem Bücherschrank, die mir viel bedeuten. Zum einen die literarischen Realisten von Twain über Dos Passos und Lewis bis Faulkner, dann die frühen Comics von Feininger, Herriman und, ja, auch Disney, schließlich die Reiseberichte europäischer Intellektueller über ihre Wahrnehmungen im Land. Um letztere soll es hier gehen.

(Der Artikel von Christian Gotthardt ist im September zuerst im Harbuch erschienen.)

Arthur Holitscher: Amerika heute und morgen, Berlin 1912. Im Versandantiquariat zu haben für ca. 30 €, Neuauflagen teilweise deutlich günstiger.

Arthur Holitscher: Amerika heute und morgen
Ihn kennt heute kaum noch jemand. Von etwa 1900 bis in die 1920er und 1930er Jahre hinein war er dagegen einer der bekanntesten und erfolgreichsten „Reiseschriftsteller“.[1] Wie der muntere Kommunist Egon Erwin Kisch, aber eher von bürgerlich-liberaler Seite. Er brachte seinen Lesern das Alltagsleben der neuen großen Mächte nahe, der Sowjetunion und eben auch der USA. Lesern, die damals absehbar keine Chance hatten, jemals selbst dorthin zu gelangen. Es sei denn in Uniform.

Holitschers großes Talent waren die psychologische Einfühlung und der Wortschatz seiner Beschreibungen. Franz Kafka soll, nur auf Basis der Lektüre Holitschers, die grandiosen New York-Schauplätze in seinem Roman „Amerika“ gestaltet haben. Und das Lebensgefühl in dieser Stadt.

Der Autor geht, nach den im Übrigen von allen der hier erwähnten Autoren gewissenhaft absolvierten Stationen Ellis Island, Wolkenkratzer usw., ganz eigensinnige Wege. Seine sensiblen Beobachtungen über pädagogische Reformversuche, über die Multikulturalität Kanadas, über das brutale Leben in Chicago sind unbedingt lesenswert.

Als befremdlich stoßen Holitschers Bemerkungen zur sog. Rassenfrage auf. Er ist zwar um eine humane Sicht bemüht, kolportierte aber zahllose rassistische Stereotype. Dies ist lehrreich, zeigt es doch, wie wenig geübt auch offene, gebildete, liberale Europäer zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Umgang mit diesem Thema waren. Hier hatte der Kolonialismus offenbar ein Problem aufgeworfen, das aus dem Gefühls- und Kenntnishorizont des Alte-Welt-Establishments nicht zu lösen war. Wie ich in einem anderen Kontext lernen konnte: Erste, wirklich überzeugende antirassistische Positionen entstanden erstmals in den linksradikalen Seeleutegewerkschaften, die mit der kommunistischen Internationale kooperierten (so z.B. auf dem „Ersten Internationalen Kongress der Hafenarbeiter und Seeleute“ in Hamburg 1931).

Arthur Holitscher: Wiedersehen mit Amerika, Berlin 1930. Das Buch ist derzeit knapp und leider nur zu unangemessenen Preisen erhältlich. Abwarten…

Arthur Holitscher: Wiedersehen mit Amerika
18 Jahre später, der Versuch einer Fortsetzung des Bestsellers. Vielleicht aber auch, oder vor allem, eine Art Widerruf der ehedem eher euphorischen Sicht. Der Text ist weit weniger ausladend, abstrakter und sehr konzentriert und kritisch.

Simone de Beauvoir: Amerika Tag und Nacht, Hamburg 1950. Im Versandantiquariat zu haben für 2 bis 10 Euro.

Simone de Beauvoir: Amerika Tag und Nacht
Hierbei handelt es sich um das Reisetagebuch einer USA-Vortragstournee vom 25. Januar bis zum 20. Mai 1947. De Beauvoir, in Frankreich bereits gefeierte Erzählerin und Essayistin, ließ sich auf Vermittlung des französischen Kulturministers an den amerikanischen Universitäten herumreichen und nahm an zahlreichen Diskussionsrunden teil. Im Vordergrund standen die großen Themen der Welt-Nachkriegsordnung, kulturelle Gemeinsamkeiten diesseits und jenseits des Atlantiks, das Verständnis von Nation und Demokratie usw. Die engagierte Diskutantin tagte, in dichtem Zigarettenqualm und mit stets gefülltem Wiskeyglas, mit ihren amerikanischen Gesprächspartnern aus Wissenschaft und Literaturbetrieb meist bis spät in die Nacht, wobei dann auch heiklere Themen wie Rassismus oder Sexismus zur Sprache kamen.

Was mir an diesem Buch gefällt, ist vielleicht in den Augen anderer sein größter Mangel: De Beauvoir geht mit einer stets störrisch aufgesetzten europäischen Schutzbrille an die USA heran, und setzt sie niemals ab. Genauer gesagt, einer französischen, humanistischen, laizistischen Schutzbrille. Sie mag einfach nicht akzeptieren, das Schlimmes in den USA passiert, weil es immer schon so passiert sei. Dies Argument lässt sie nicht gelten. Sie erinnert mich an einen von mir geschätzten Lehrer in meiner Schülerzeit. Als ich auf seine frustrierte Feststellung, die von der Schulleitung veranlasste Aufteilung der Pausenräume in Raucher und Nichtraucher würde nicht befolgt, antwortete, in dem einen Raum träfe sich die Junge Union und in dem anderen die Linken, und beide würden rauchen, sagte er: Wenn die Realität falsch ist, muss man sie ändern. Klassischer maoistischer Voluntarismus, aber manchmal ein fruchtbarer Denkanstoß. Selige 1970er Jahre.

Bei De Beauvoir beweist sich dies vor allem in der Darstellung ihrer Gespräche mit Literaten und Aktivisten im Umfeld der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, die sie konsequent suchte und ausführlich schildert.

Volkhard Brandes: Good bye, Uncle Sam, München 1971. Im Versandantiquariat zu haben für 3 bis 15 Euro.

Volkhard Brandes: Good bye, Uncle Sam
Dieses Buch habe ich 1974 gelesen, wir hatten es damals in unserer (vor dem Schulgelände verkauften) Schülerzeitung empfohlen. Es brachte meine in der Kindheit und beim Heranwachsen entstandenen USA-Wahrnehmungen auf einen plausiblen Nenner. Der meinen Blick bis heute prägt.

Meine Wahrnehmungen hatten viel mit dem Vietnam-Krieg zu tun. Ich erinnere mich an zwei Schlaglichter: Die legendäre Fotoserie des „Stern“ über die Ausbildung von Kommandoeinheiten der US-Marines, und die allsonntägliche Berichterstattung des ARD-Magazins „Weltspiegel“ über die Kampfhandlungen. Das war alles stark erklärungsbedürftig, und ich war dankbar, dass mein großer Bruder, als „68er“, da war, mir beim Verstehen zu helfen.

Bei Brandes lernte ich dann die Gesellschaft kennen, die hinter diesem Krieg stand. Er hatte Englisch und Amerikanistik studiert und war mehrfach durch die USA getrampt, hatte an Protesten gegen den Krieg teilgenommen und war auch abgeschoben worden. Sein Bericht ist nicht systematisch. Er gibt verstörende Snapshots preis, die vor allem deshalb verstörend sind, weil sie das, was wir geneigt sind für unsere europäischen Kulturstandards zu halten, massiv unterlaufen: Amerikanische Nazis, Slums in New York, Polizeikorruption und -gewalt, Truthahn-Wahnsinn der Mittelschicht bei Thanksgiving, Hire and Fire usw.

Vielleicht damals eine vorurteilsbedingte Wahrnehmung eines deutschen Linken? Aber wenn wir die derzeit vom Trump-Aufstieg in den USA bzw. AfD-Aufstieg in Deutschland ausgehenden Tabubrüche bedenken, vielleicht doch eher eine gespenstische Weissagung. The times they are a`changing.

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Anmerkungen

[1] Eine schöne Zusammenstellung von Rezensionen und Originaltexten bietet die Friedrich Ebert Stiftung in https://www.fes.de/e/arthur-holitscher-neu-entdecken-mit-dem-historischen-vorwaerts/ (15.8.2019).

Umleitung: Selbstreflexion, Thakur, DJV, Berlins Krise, Klimakatastrophe, Ulrich Kelber, Leonardo da Vinci, Hagen und Brilon-Petersborn.

Bank, Bäume und Bildstock bei Scharfenberg (foto: zoom)

Das Bild der Bank-, Baum- und Bildstockgruppe bei Scharfenberg habe ich nach Hinweisen eines Twitter-Bekannten aufgenommen. Das Wetter war leider nicht wie erträumt, aber ich bin sicher, dass ich den Ort erneut aufsuchen werde. Das Motiv ist noch nicht ausgereizt.

Jetzt aber zu einigen Lesehinweisen.

Kunsttagebuch: Selbstreflexion als Voraussetzung für das Ich-erkennendes Bewusstsein … endoplast

Thakur: Speziell diese Ausgabe von 1914 hatte ich schon mehrfach besessen und dann wieder nicht mehr. Immer wenn ich – früher – ernsthaft verliebt war, dann schenkte ich es der Angebeteten. Jedesmal ewige Ewigkeit voraussetzend. Ich Narr … paralipomena

Journalistenverband: will Veranstaltung zum Datenschutz verhindern … welchering

Lösung für Berlins Krise: Die Krise der Stadt wäre schlagartig behoben, wenn der Bundestag und die Bundesregierung nach Bonn zurückkehrten. Der Zustrom der Bürger nach Berlin würde verebben, die Mieten würden sinken, der Wohnungsmarkt würde durchlüftet … postvonhorn

Klimakatastrophe: Wie Fritz Vahrenholt den Bundestag für dumm verkaufen wollte … scilogs

Datenschützer Ulrich Kelber: Wir werden auch in Deutschland Strafen in Millionenhöhe sehen … netzpolitik

Der Zeit voraus in allen Wissenschaften: Hagener Ausstellung auf den Spuren des Universalgenies Leonardo da Vinci … revierpassagen

Schule statt Block 1: Hagens Politik erwartet Transparenz … doppelwacholder

Brilon-Petersborn: Neue Siedlung im potentiellen Naturschutzgebiet? … sbl

Kurz gebloggt: Besuch im Sauerlandmuseum

Am frühen Samstagnachmittag vor dem Sauerlandmuseum in Arnsberg (foto: zoom)

Inzwischen sind hier im Blog viele Artikel über das Sauerlandmuseum veröffentlicht worden, meist im Zusammenhang mit finanziellen oder baulichen Problemen bei der Errichtung des Anbaus.

Am 1. September ist das Sauerlandmuseum offiziell eröffnet worden. Ich hatte dazu einen Artikel der Sauerländer Bürgerliste „Sauerlandmuseum Arnsberg: Trotz verregnetem Start eine sehenswerte August Macke Ausstellung“ rebloggt.

Am letzten Samstag habe ich mich spontan zu einem Besuch der Sonderausstellung „AUGUST MACKE – GANZ NAH“ entschlossen.

Macke kann man sich eigentlich immer angucken. Die Bilder sind mir noch aus meiner eigenen Schulzeit vertraut, und so taucht man in eine vergangene Welt der Revolutionen, die immer noch modern scheint, ein.

Vor dem Genuss von Macke steht die Bewältigung des Neubaus. Wenn ich richtig gezählt habe, findet die Ausstellung auf vier Etagen statt.

Durch den Altbau gelangt man über eine Brücke in den Neubautrakt. Dort ein erster Raum mit Lebensdaten und Informationen zu August Macke. Die Luft ist schlecht.

Dann geht es hinab in die Tiefe. Auf jeder Ebene jeweils ein einzelner Ausstellungsraum.

Das Treppenhaus des mehrstöckigen Neubaus (foto: zoom)

Der Beginn, die Mitte und das Ende.

Das Treppenhaus hat mich erschlagen. Es ist eine Mischung zwischen dem Dortmunder U im Bonsai-Format und dem Abstieg zum Hallenbad im Winterberger Oversum. Erdrückend.

Auf der Suche nach den Macke-Räumen.

Fotografieren verboten (foto: zoom)

„August Macke gehört zu den bedeutendsten Künstlern des deutschen Expressionismus. Geboren wurde er 1887 in Meschede im Sauerland. Die Ausstellung „August Macke – ganz nah“ beleuchtet seine Persönlichkeit in einer Vielzahl thematischer und biographischer Aspekte. Macke war ein Künstler, der seinen Weg selbstbewusst verfolgte und seine Entscheidungen auch gegen die Konventionen seiner Zeit traf.“ [1]

Macke wurde nur 27 Jahre alt. Er wurde gleich nach Beginn des Ersten Weltkriegs an der Westfront bei Perthes-lès-Hurlus in der Champagne am 26. September 1914 getötet, er starb, er fiel. Seine Leiche wurde nicht geborgen, konnte nicht geborgen werden. Macke ist auf dem Soldatenfriedhof von Souain in einem Sammelgrab begraben.

Die in Arnsberg ausgestellten Bilder (fotografieren verboten) stammen zum großen Teil aus Privatsammlungen.

Im Flyer heißt es: „Die Ausstellung zeigt nicht nur Gemälde und Zeichnungen, sondern stellt den ganzen Künstler vor als Entwerfer für das Theater in Düsseldorf oder als Gestalter von Kunsthandwerk. Die Konzeption umfasst auch die zeitgeschichtlichen Hintergründe, vor denen sein Werk entstand, und berücksichtigt seine Rolle als junger Familienvater und unermüdlicher Netzwerker. Eine große Zahl der zusammengetragenen Werke stammt aus Privatbesitz und ist nur selten oder war noch nie öffentlich zu sehen.“

Ich werde die Ausstellung auf jeden Fall in den nächsten Tagen noch einmal anschauen, denn am Samstag wurde ich zu sehr von der Architektur des Sauerlandmuseums erschlagen.

Wenn ich in Ausstellungen lese „August Macke starb bereits 1914 im Alter von 27 Jahren.“, dann frage ich mich:

Und was hast du gemacht, in den Tagen vor deinem Tod? Wie viel Menschen hast du getötet?

Der Krieg hat ein grausames Gesicht, das ich mit den Bildern von August Macke nicht in Einklang bringen kann.

Auch wegen dieser offenen Frage werde ich noch einmal ins Sauerlandmuseum zurückkehren.

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[1]Erste Informationen zu August Macke:
https://de.wikipedia.org/wiki/August_Macke

100 Jahre Waldorfschule, 100 Jahre ‘Rudolf Steiner hat gesagt …’

Das zweite Goetheanum in Dornach (1928 bis heute), Südansicht (foto: „Wladyslaw“, wikimedia, (CC BY-SA 3.0))

Im September 2019 wird die Waldorfschule hundert Jahre alt. Keine andere Schulform hält so starr an den Vorgaben ihres Begründers fest, wie die Waldorfpädagogik an der Anthroposophie Rudolf Steiners.

(Der Artikel erschien zuerst beim „Humanistischen Pressedienst“, unter dem Titel „100 Jahre Pädagogik aus dem Esoterik-Baukasten“)

In der sich nach aussen hin fortschrittlich präsentierenden, anthroposophischen „Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft“ ist noch immer Rudolf Steiners esoterische „Allgemeine Menschenkunde“ aus dem Jahr 1919 im Programm. Von „2017 – 2020“ veranstaltet die Alanus Hochschule die, Zitat:

„Thementage Menschenkunde

Die von Rudolf Steiner 1919 begründete Waldorfpädagogik beruht auf einer anthroposophischen Menschenkunde, die Mensch und Welt in einem spirituellen Erkenntnishorizont begreift.

Diese Menschenkunde umfasst anthropologische, (entwicklungs-)psychologische, physiologische und epistemologische Aspekte. Ihre detailliertesten Ausführungen finden sich in den Vorträgen Rudolf Steiners ‘Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik’ und im sogenannten ‘Heilpädagogischen Kurs’.

Die ‘Thementage Menschenkunde’ an der Alanus Hochschule behandeln unterschiedliche Aspekte der Anthropologie Rudolf Steiners, die sowohl für die Waldorfpädagogik als auch für die anthroposophische Heilpädagogik von zentraler Bedeutung sind. Neben der geisteswissenschaftlichen Grundlagenarbeit sollen die einzelnen menschenkundlichen Aspekte auch mit Blick auf ihre Relevanz für die pädagogische Praxis befragt werden.“[1]

„…anthropologische, (entwicklungs-)psychologische, physiologische und epistemologische Aspekte“ klingt nach „Wissenschaft“, aber das ist die „Allgemeine Menschenkunde“ Steiners sicher nicht. Was dann?

Nähern wir uns zunächst „von aussen“ an – ohne jede Vorkenntnis der Anthroposophie –, ein Freund schreibt mir:

„Ich habe auch einen Blick in die ‘Allgemeine Menschenkunde’ geworfen.

Das erste, was mir darin auffällt, ist das Literaturverzeichnis – es beinhaltet, soweit ich sehe, nur Werke von Herrn Steiner; der Mann muss das Rad wirklich sehr gründlich neu erfunden haben – oder eine Vorliebe für intellektuellen Autismus haben.

Abgesehen davon, dass die Vorträge in der Sprache einer anderen Zeit (Kaiserzeit) geschrieben sind und mir das ‘geheimbündische’ an der ganzen Tonart nicht gefällt, wirken einige Stellen so, als hätte der Autor Ideen und Begriffe aus der Alten Indischen Kultur (Wiedergeburt, Karma, Bedeutung des Atmens etc) ziemlich krude übernommen und sie sich – ohne diese Quellen zu zitieren – zu eigen gemacht. Zum Vergleich könntest Du mal einen Blick in Heinrich Zimmers ‘Philosophie und Religion Indiens’[2] werfen – da steht zu diesen Sachen meines Erachtens Interessanteres und besser Lesbares drin.

Ein schlimmer Verdacht, der einen beim Lesen des Werkes beschleicht, ist, dass die Pädagogische Lehre, die hier ausgebreitet wird, das Kind nicht um seiner selbst willen betrachtet und fördert, sondern nur als Baustein in einem galaktischen Puzzlespiel (aus Atlantiern und Lemuriern?).“

Dieser „schlimme Verdacht“ wird von Prof. Dr. Stefan T. Hopmann, Bildungswissenschaftler an der Universität Wien, im Interview über die Waldorfschule bestätigt:

„Lichte: Ein Werbeslogan der Waldorfschulen lautet: ‘Im Mittelpunkt der Mensch’. Im Standard[3] sagen Sie über die anthroposophische Pädagogik: ‘Denen geht es um das Kind so wie es der Bank ums Geld geht.’

Hopmann: Im Mittelpunkt steht bei denen der Mensch, wie Rudolf Steiner ihn sieht, also als Reinkarnation, als Mitglied einer Rasse, als Charaktertyp usw. Ziel ist es, den jeweiligen Menschen entsprechend den Steinerschen Lehren zu formen bzw. sein ‘Wesen’ zu entfalten. So wie bei anderen Sekten verbindet sich damit ein Totalitätsanspruch: Wir wollen dich mit Haut und Haaren, mit deiner ganzen Persönlichkeit vereinnahmen – nicht anders als eine Bank dein Geld will: Nicht um nett zu dir zu sein, sondern um an dir Geld zu verdienen. Bloß blöd, wenn man zu jenen Wesen zählt, denen laut Steiner Dahinsiechen oder Verkümmern vorausbestimmt ist. Denen geht es dann wie bei der Bank, wenn die Kreditwürdigkeit dahin ist.“[4]

Und was ist gemeint, wenn der Freund schreibt: „… wirken einige Stellen so, als hätte der Autor [Rudolf Steiner] Ideen und Begriffe aus der Alten Indischen Kultur (Wiedergeburt, Karma, Bedeutung des Atmens etc) ziemlich krude [sic!] übernommen“?

Diese Frage beantwortet man am besten „von innen“, indem man selber einige Seiten der „Allgemeinen Menschenkunde“ liest, die komplett und gratis online ist. Wer das getan hat, wird auch nicht mehr sagen wollen, dass folgendes „aus dem Kontext gerissen ist“, denn es gibt keinen vernünftigen, nachvollziehbaren „Zusammenhang“ mehr, Zitat Steiner aus der „Allgemeinen Menschenkunde“:

„Der Mensch steht der Außenwelt gegenüber. Das Geistig-Seelische strebt danach, ihn fortwährend aufzusaugen. Daher blättern wir außen fortwährend ab, schuppen ab. Und wenn der Geist nicht stark genug ist, müssen wir uns Stücke, wie zum Beispiel die Fingernägel, abschneiden, weil der Geist sie, von außen kommend, saugend zerstören will.“[5]

Anthroposophie macht frei

Verantwortlich für die „Thementage Menschenkunde“ der Alanus Hochschule ist Prof. Dr. Jost Schieren, Professor für Schulpädagogik mit Schwerpunkt Waldorfpädagogik.

Im Interview mit dem „Waldorfblog“[6] tritt Schieren als „Werber“ für die Waldorfpädagogik auf[7], verwendet immer wieder das buzzword „Freiheit“ – in einer einzigen Antwort erstaunliche 7 mal:

„Die Anthroposophie ist im Kern auf das Ideal des freien Menschen ausgerichtet.“
„Freiheitsentwicklung als Teil des Weltgeschehens“
„Freiheitsentfaltung unseres Menschseins“
„Position der Freiheit“
„Begriff der Freiheit“
„Entwicklungsraum der Freiheit“
„freien Persönlichkeitsentwicklung“

Für Schieren macht einfach alles frei, was Anthroposophie ist. Wie die Waldorfpädagogik, die auf der Anthroposophie Rudolf Steiners (1861 – 1925) basiert.

Über einen Vortrag Rudolf Steiners sagt Kurt Tucholsky: „Je größer der Begriff, desto kleiner bekanntlich sein Inhalt – und er hantierte mit Riesenbegriffen.“[8]

„Freiheit“: mit diesem Riesenbegriff macht Jost Schieren Werbung für die Waldorfpädagogik.

Reinkarnation macht frei

Beim Werber Jost Schieren ist „Reinkarnation“ normal, wird zu einer weiteren „Sichtweise auf den Menschen“, die – Verkaufsargument! – von „Fremdbestimmung“ befreit:

Der Gedanke der Reinkarnation erlaube es, so Jost Schieren, „den Menschen nicht als irgendwie allein fremdbestimmtes Wesen (Gene, Sozialisation, Gehirnprägungen usw.) zu denken.“ Das Kind sei nicht das alleinige Resultat von Vererbung und Umgebung, sondern trage in sich „eine eigene auf sich selbst begründete Persönlichkeit“, die nicht zufällig entstanden sei, da „der Mensch sein eigenes Wesen selbstverantwortlich durch eine Reihe von Verkörperungen selbst bildet.“

Doch was bedeutet „Reinkarnation“ überhaupt? Und bei Rudolf Steiner?

Weit verbreitet ist die Idee im asiatischen Kulturkreis, im Hinduismus und den verschiedenen Erscheinungsformen des Buddhismus. Gemeinsam ist ihnen, daß das Ziel ist, dem „endlosen Kreislauf der Wiedergeburten“ zu entkommen, sich von der Fessel des „Karma“ zu befreien.

Helena Petrovna Blavatsky und in ihrer Nachfolge Rudolf Steiner kehren die Idee in ihr Gegenteil um: Der Mensch soll im Kreislauf der Wiedergeburten bleiben, so kann er sich – und damit die Menschheit – perfektionieren. Das bedeutet: Pflichterfüllung. Von „Freiheit“ keine Spur.

Rudolf Steiner verspricht eine Form der (geistigen) Unsterblichkeit und befriedigt zugleich das Bedürfnis seiner – zur Zeit der Begründung der Anthroposophie – aristokratischen und großbürgerlichen Klientel nach „Elite“: „WIR bringen die Menschheit (-sentwicklung) voran!“

Und natürlich kann die Menschheit auch nicht an einem Tag an Ihrem Bestimmungsort, dem Planeten „Vulkan“[9], ankommen – dann wäre Steiners Geschäftsmodell sofort erledigt …

Grundkenntnisse der Philosophie, Religion und Geschichte sind nicht erforderlich, wenn man Professor einer anthroposophischen Hochschule ist. Es reicht, wenn man aus Steiners uraltem Esoterik-Baukasten eine Pädagogik bastelt, die nach aussen hin „neu“ erscheint.

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Weitere Artikel zu „100 Jahre Waldorfschule 2019“:

Die Waldorfschule als Bekenntnisschule“, von Prof. Klaus Prange
Rudolf Steiners ‘survival of the whitest’“, Geschichte in der Waldorfschule, Andreas Lichte
Die Golems – und wie sie in die Welt kommen“, Kunst in der Waldorfschule, Andreas Lichte

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[1] „Thementage Menschenkunde“ – https://www.thementage-menschenkunde.de/ – Abruf am 21.5.2018

[2] Heinrich Zimmer, „Philosophie und Religion Indiens“, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 26, Suhrkamp Verlag, Erste Auflage 1973

[3] „Mit Schlingenmalen zum Schreiben finden“, Lisa Aigner, derStandard.at, 5. Juni 2011

[4] „Man kann nicht nur ein ‚bisschen‘ Waldorf sein“, Ruhrbarone, 11.9.2011

[5] Rudolf Steiner, „Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik“, GA 293, S. 93 f.

[6] „Waldorf heute: Vom ‚Eingeweihtenwissen‘ zum ‚akademischen Diskurs‘? Ein Interview mit Jost Schieren“, Waldorfblog, 21. März 2016

[7] die folgende Textpassage ist ähnlich veröffentlicht in: „Prof. Jost Schieren, Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft: Der Waldorf-Werber“, Humanistischer Pressedienst, 5.4.2016, https://hpd.de/artikel/waldorf-werber-12931

[8] Kurt Tucholsky, „Rudolf Steiner in Paris“, Die Weltbühne, 03.07.1924, Nr. 27, S. 26.

[9] Die Menschheit entwickelt sich laut Rudolf Steiner auf sieben Planeten. Von Planet zu Planet steigt das Menschengeschlecht höher in der Entwicklung: Saturn, Sonne, Mond, Jupiter, Venus und zuletzt der Vulkan … siehe auch: „Rudolf Steiners rassistischer Science-Fiction-Trash: Aus der Akasha-Chronik“, Humanistischer Pressedienst, 5.1.2015, https://hpd.de/artikel/10883

Sauerlandmuseum Arnsberg: Trotz verregnetem Start eine sehenswerte August Macke Ausstellung

Weniger als 30 Minuten nach den ersten Worten des Landrats wurde die Veranstaltung während der Rede des NRW-Ministerpräsidenten angebrochen. (foto: sbl)

Fünf Jahre nach der Schließung des Altbaus des Sauerlandmuseums im August 2014 erfolgte gestern die Einweihung des Erweiterungsbaus. Es wurden etwa 500 qm neue Ausstellungsfläche geschaffen. Der Aufwand für den Neubau und für die Sanierung des Altbaus liegt bei mehr als 17 Mio Euro. In diesem Betrag sind Mehrkosten von mehr als 1 Mio Euro ebenso enthalten wie Kosten für den Grundstückserwerb und die Personalkosten für die Begleitung des Umbaus und des Neubaus. Etwa 6 Mio Euro gab das Land als Zuschuss für dieses Regionale-Projekt.

(Der Artikel ist gestern zuerst auf der Website der Sauerländer Bürgerliste erschienen.)

Es dürfte eine der kürzesten Eröffnungsveranstaltungen gewesen sein, an denen ein NRW-Ministerpräsident jemals teilgenommen hat. Weniger als 30 Minuten nach den ersten Worten des Landrats wurde die Veranstaltung während der Rede des NRW-Ministerpräsidenten angebrochen.

Die Ansprache des Arnsberger Bürgermeisters fiel ganz aus, genauso wie der Vortrag des Architekten zum baulichen Konzept sowie zwei Fachvorträge zur Macke-Ausstellung. Viele der geladenen Gäste flüchteten – wenige Minuten nachdem der Regen begonnen hatte – von ihren Plätzen im Innenhof ins Museum oder ins benachbarte “Blaue Haus”. Erst nach etwa 1 1/2 Stunden hörte der Regen auf, aber da war draußen längst alles abgebaut.

Vielleicht hatte der heutige Ablauf Symbolcharakter. Auch die Bauplanung für das Sauerlandmuseum war viel zu risikoreich gewesen. Im Jahr 2013 hatte der Kreistag auf Vorschlag des Landrats beschlossen, direkt am Altbau 20 Meter senkrecht in den Berg zu graben und in diesem Abgrund einen Neubau zu errichten. Warnungen diverser Einheimischer und der SBL-Fraktion, dass dies bautechnisch undurchführbar sei, wurden ignoriert.

Sie erinnerten daran, dass in den letzten Jahren in einem Umkreis von fünf Kilometern drei andere Hänge bei weniger eingreifenden Baumaßnahmen abgerutscht waren und das Gestein für solche riskanten Baugruben nicht geeignet sei. Der Landrat lobte sich in seiner heutigen Ansprache dafür, dass er die ursprüngliche Planung gestoppt hätte. Das geschah aber erst nach fast 2 Jahren, viel zu spät. Bis dahin waren schon etwa 2 Mio Euro an Planungskosten verbraucht worden. Besser spät als nie, aber hier hätte etwas weniger Selbstbewusstsein des Landrats und der “GaGaGroKo” im Kreistag den Bürgerinnen und Bürgern viel Geld sparen können! Der Erweiterungsbau wurde neu geplant, in einer Treppen-Variante, die nur geringe Eingriffe in den Hang erforderlich machte.

Mit dem Neubau wurde heute auch die Macke-Ausstellung eröffnet. Sie enthält etwa 130 Werke aus der nur etwa 11 Jahre dauernden Schaffensphase des in Meschede geborenen Künstlers. Bis zu seinem Tod als 27jähriger Soldat 1914 im I. Weltkrieg hat er etwa 11.000 Werke erstellt. Zum Schicksal von August Macke und zum heutigen Tag passte es, dass Ministerpräsident Laschet in seiner Ansprache auf den 80. Jahrestag des Beginns des II. Weltkriegs einging.

Positiv: Trotz diverser Schwierigkeiten ist der Erweiterungsbau des Sauerlandmuseums rechtzeitig zur Ausstellungseröffnung fertig geworden, und die Ausstellung ist sehenswert. Besonders lohnenswert ist ein Besuch mit einer fachkundigen Führung, bei der sich viel über das Leben und Wirken des Künstlers erfahren lässt.

Victor Klemperer über den 1. September 1939

In seinem Tagebuch notiert Victor Klemperer am 3. September, Sonntag vormittag[1]:

„Die dauernde Nervenfolter immer unerträglicher. Am Freitag morgen [1.9.39, zoom] dauernde Verdunklung befohlen. Wir sitzen eng im Keller, die furchtbare nasse Schwüle, das ewige Schwitzen und Frösteln, der Schimmelgeruch, die Lebensmittelknappheit macht alles noch qualvoller.

[…]

Dies alles wäre an sich Bagatelle, aber es ist nur das Nebenbei. Was wird? Von Stunde zu Stunde sagen wir uns, jetzt muss es sich entscheiden, ob Hitler allmächtig, ob seine Herrschaft eine unübersehbar dauernde ist, oder ob sie jetzt, jetzt fällt.

Am Freitagmorgen, 1. 9., kam der junge Schlächtergeselle und berichtete: Rundfunk erkläre, wir hielten bereits Danzig und Korridor besetzt, der Krieg mit Polen sei im Gang, England und Frankreich blieben neutral. Ich sagte zu Eva, dann sei für uns eine Morphiumspritze oder etwas Entsprechendes das Beste, unser Leben sei zu Ende. Dann wieder sagten wir uns beide, so könnten die Dinge unmöglich liegen, der Junge habe schon oft tolles Zeug berichtet (er sei ein Musterbeispiel für die Art, wie das Volk Berichte auffaßt). Eine Weile später hört man Hitlers gehetzte Stimme, dann das übliche Gebrüll, verstand aber nichts.

[…]“

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[1] Victor Klemperer, 1937 – 1939, 3. Aufl. Berlin 1999, S. 157/158

Antikriegstag am 1. September in Meschede: Mahnung an den Beginn des 2. Weltkrieges und Alternativen zum Militär für die Zukunft

Er ist nicht tot – der Krieg! Erinnern und Mahnen beim Sühnekreuz in der Kirche Mariä-Himmelfahrt zu Meschede. Das „Sühnekreuz“ wird am Sonntag aus seinem Nischendasein befreit und vor den Altar gelegt. (bild: thelen-khoder)

Am 01. September 2019 jährt sich der Beginn des zweiten Weltkrieges zum achtzigsten Mal. Zu diesem Tag als „Antikriegstag“ bieten viele Gruppen der katholischen Friedensbewegung pax christi interessante Veranstaltungen an oder organisieren Kundgebungen und Demonstrationen gemeinsam mit den regionalen Partnern der Friedensbewegung.

(Der Text beruht auf einer Pressemitteilung von pax christi, der internationalen katholischen Friedensbewegung.)

Der pax christi-Diözesanverband Paderborn lädt in Kooperation mit der Kirchengemeinde Mariä-Himmelfahrt in Meschede zu Gottesdienst, Begegnung, Vortrag und Diskussion ein.

Sonntag 1. September 2019 in der Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt in Meschede 

09:30 Uhr Gottesdienst mit Impuls von Nadja Thelen-Khoder zum Umgang mit Grabstätten von Zwangsarbeiter*innen und Kriegsgefangenen

11:00 Uhr Friedenslandschaft Sauerland, Vortrag und Diskussion mit Peter Bürger über Friedensboten

12:30 Uhr Begegnung und gemeinsames Mittagessen

Als sauerländische Friedensboten bezeichnet Peter Bürger Menschen wie den katholischen Friedensaktivisten und Heimatforscher Josef Rüther (1881-1972) aus Brilon, der in der Weimarer Republik zu den frühesten Warnrufern gehörte. Er wurde lange vor 1933 von den Nazis ebenso gehasst wie der Hüstener Bürgermeister Dr. Rudolf Gunst (1883-1965), der den Friedensbund der Katholiken (FdK) in ganz Deutschland leitete. Beide Männer verloren ihre berufliche Grundlage und gehören zu den Verfolgten des deutschen Faschismus.

Mehr über die Friedensboten erfahren Sie im anhängenden Interview mit Peter Bürger.

Siehe auch Peter Bürger / Jens Hahnwald / Georg D. Heidingsfelder: „Sühnekreuz Meschede. Die Massenmorde an sowjetischen und polnischen Zwangsarbeitern im Sauerland während der Endphase des 2. Weltkrieges und die Geschichte eines schwierigen Gedenkens“; Norderstedt 2016 (edition leutekirche sauerland 3, Books on Demand,; erweiterte Buchausgabe von „Zwischen Jerusalem und Meschede“) (bild: thelen-khoder)

Der Waldfriedhof „Fulmecke“ ist Ort der Spurensuche von Nadja Thelen-Khoder. Ihre Mutter erzählte ihr wie sie ihrem Vater bei der ärztlichen Versorgung sowjetischer Zwangsarbeiter geholfen hatte. Damit begann eine Recherche, die sie in einem Buch über den sogenannten „Franzosenfriedhof“  darlegt. Dort liegen neben den namenlos Begrabenen  dreier nächtlicher Massaker deutscher Soldaten von Ende März 1945 auch 70 weitere meist sowjetische Zwangsarbeiter begraben, die im Zweiten Weltkrieg oder wenige Wochen danach starben.

Mehr über die den Umgang mit den Gräbern der Zwangsarbeiter erfahren Sie im anhängenden Interview mit der Autorin Nadja Thelen-Khoder, außerdem hier eine ausführliche Liste ihrer Bücher und Artikel:

Artikel von Nadja Thelen-Khoder

„Erfüllt eure Pflicht gegen Führer, Volk und Vaterland!“
Römisch-katholische Kriegsvoten aus den deutschen Bistümern und der Militärkirche – Arbeitshilfe zum 80. Jahrestag des Überfalls auf Polen

Vorbemerkung zu dieser[1a,b] Arbeitshilfe

Kurz vor seinem Tod hat Heinrich Missalla (1926-2018) zur kirchlichen Beihilfe für den Hitlerkrieg einen Offenen Brief an die deutschen Bischöfe geschrieben: „Haben Sie endlich den Mut zur Wahrheit!“ Dieses Schreiben ist nun zum 80. Jahrestag des Überfalls auf Polen veröffentlicht worden und wird – gleichsam als Vorwort zu dieser Arbeitshilfe – nachfolgend dokumentiert.

2015 ist im Rahmen der Erinnerungsarbeit von pax christi eine digitale Sammlung mit Beiträgen zum letzten Weltkrieg entstanden, die seit 2018 auch als Buch vorliegt (Es droht eine schwarze Wolke. Katholische Kirche und Zweiter Weltkrieg. Hg. von Peter Bürger. Im Auftrag von: pax christi – Internationale Katholische Friedensbewegung / Deutsche Sektion e.V. Bremen: Donat Verlag 2018.)

Im Anschluss daran sollte bis zum 1.9.2019 eine solide Quellenedition zur römisch-katholischen Kriegsbeihilfe 1939-1945 erarbeitet werden. Dieses Vorhaben, das bislang leider nicht verwirklicht werden konnte, soll 2021 – achtzig Jahre nach Beginn des Russlandfeldzuges – vorliegen.

Diese Arbeitshilfe ist hingegen nicht für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema geeignet, sondern soll allen, die durch H. Missallas Brief nachdenklich geworden sind, einige aussagekräftige, exemplarische Texte im Netz zugänglich machen (nur ein Teil der Zitate ist anhand der einschlägigen Werke überprüft worden). Anregungen, Hinweise und Zusendungen für die Arbeit an der umfangreichen, für 2021 abgekündigten Quellenedition sind sehr willkommen.

Möge die Hoffnung auf ein wirklich „großes Wort“ der deutschen Bischöfe zum 1. September 2019 nicht enttäuscht werden.

Düsseldorf, 28.08.2019 Peter Bürger

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[1a] Die Arbeitshilfe als PDF: _01b AH Bischöfe & Hitlerkrieg 2019 08 28

[1b] Die Arbeitshilfe als docx: _01a Nurtext Bischöfe zu Hitlers Krieg 2019 08 28

Umleitung: Elf Lesehinweise von der Visualisierung des Nie-Gesehenen über NS-Traditionen und völkische Parallelwelten zum anarchischen Zustand der GroKo und mehr …

Am späten Nachmittag auf der Niedersfelder Hochheide (foto: zoom)

Kunsttagebuch: Kunst und die Visualisierung des Nie-Gesehenen … endoplast

SPD: Dem Kollaps entgegen – Die Erneuerung droht zu scheitern … postvonhorn

Von Lucke über die GroKo: „Fast anarchischer Zustand der Führungslosigkeit“ … deutschlandfunk

Zum Weiterwirken von NS-Traditionen: Wieder N wie Nathan statt N wie Nordpol? … scilogs

Gestapo, Kripo, Schupo: Polizeiliche Gewalttäter in Harburg 1933 bis 1945 … harbuch

Völkische Parallelwelt: Rechte Familien siedeln sich gezielt in Regionen mit Landflucht an. Mit Gleichgesinnten leben sie ihre völkische Ideologie aus und geben sie entsprechend an den Nachwuchs weiter … bnr

Schlanker Staat? Blöde Idee! Niedrige Staatsquote, eine Schuldenbremse im Verfassungrang: all das klingt gut, ist aber gefährlicher Unfug. In einer schweren Rezession ist eine Schuldenbremse praktisch ökonomischer Selbstmord … misik

Tor-Netzwerk und Redaktionsgeheimnis: Was die Bundesregierung anderswo unterstützt, greift sie hierzulande an … netzpolitik

The Weather Machine – a journey into the forecast: Andrew Blums „The Weather Machine – A journey inside the forecast“ untersucht die Hintergründe unserer Wetterberichte. Das Buch startet aus der Geschichte heraus und erzählt, wie es überhaupt zu unserem heutigen System der Wetterbeobachtung kam … schmalenstroer

Blickrichtung rückwärts: Ruhrtriennale 2019 mit groß angelegter Multimedia-Produktion von Heiner Goebbels … revierpassagen

Versuch einer Analyse: Kosten und Qualität der vier Jugendamtsbezirke im HSK … sbl

Militärkirche: „Die Seelen rüsten“

Ein neuer Sammelband beleuchtet die staatskirchliche Militärseelsorge und erschließt Vorbilder der Befreiung.

(Text: Peter Bürger)

Nach dem im Juli erschienenen Sammelband „Im Sold der Schlächter“ über die Militärseelsorge im Hitlerkrieg legen wir mit dem zweiten Titel „Die Seelen rüsten“ eine aktuelle Kritik der staatskirchlichen Militärseelsorge vor. Kooperationspartner ist wieder das Ökumenische Institut für Friedenstheologie. Dieses Buch enthält in erster Linie Beiträge aus christlicher Sicht, doch es kommen auch Vertreter einer antimilitaristischen, humanistischen und laizistischen Kritik zu Wort.

Im Zuge der Remilitarisierung wurde ab 1950 in Westdeutschland ein neues Militärkirchenwesen aufgebaut. Federführend beteiligt waren geistliche Assistenten des Hitlerkrieges aus beiden Konfessionen. Pazifistische Abweichler wurden in den Kirchen zum Teil kaltgestellt, während die militärfreundlichen Amtsträger der Regierung treu zu Diensten standen.

Die Militärpfarrer sind bis heute Beamte und dem Bundesministerium für das Militärressort zugeordnet, das sie aus Steuergeldern auch besoldet. „Auf dem Felde“, das heißt im Einsatz außer Haus oder im Ausland, tragen die Seelsorger sogar den Tarnanzug der Soldaten. Der staatskirchliche Charakter dieses Komplexes liegt offen zutage. Es spricht vieles dafür, ihn als unvereinbar mit den Anforderungen des Grundgesetzes zu betrachten.

Die Kirchen in der DDR blieben hingegen staatsfern und nahmen später einen entschiedenen Friedens-Standort ein, der sie allein an Jesus von Nazareth band. Ihre Seelsorge für Wehrpflichtige, Bausoldaten und Verweigerer vollzog sich unabhängig, als rein kirchliche Aufgabe. Nach der staatlichen Vereinigung wurden die Erfahrungsschätze der „DDR-Christenheit“ ignoriert. Kritik an der staatskirchlichen Verflechtung, wie sie Pfarrer Axel Noack (Kirchenprovinz Sachsen) 1990 vorgetragen hat, ist 2019 dringlicher denn je: „Mit dem Militärseelsorgevertrag geht die Kirche eine >Grundbindung< an die Armee ein, die der Freiheit ihrer Verkündigung gefährlich werden kann … (Es) hat die Kirche sich ohne Not in eine Bindung begeben, die die Klarheit ihres Zeugnisses verdunkeln muss … Im demokratischen Rechtsstaat … besteht nicht die Nötigung zu einem Militärseelsorgevertrag.“

Derzeit gibt es in vielen Kirchen der Christenheit einen Aufbruch hin zur biblischen „Doktrin“ der aktiven Gewaltfreiheit und zu einem entschiedenen Friedenszeugnis – mit klarem Standort im Sinne der Botschaft Jesu. Dass jüngst mehrere Bücher von hochrangigen Militärseelsorgern erschienen sind, die die staatliche Militärdoktrin stützen, wirkt da nicht mehr ganz zufällig.

Unser Sammelband vermittelt Orientierung, Impulse und Befreiungswege für die Debatte über das Militärkirchenwesen – mit Texten von: Ralf Becker, Wolfram Beyer, Peter Bürger, Gerhard Czermak, John Dear, Matthias-W. Engelke, Erasmus von Rotterdam, Hanna E. Fetköter, Albert Fuchs, Joachim Garstecki, Matthias Gürtler, Ullrich Hahn, Georg D. Heidingsfelder, Hartwig Hohnsbein, Uwe Koch, Victoria Kropp, Gerhard Loettel, Walter Mixa, Franz Nadler, Thomas Nauerth, Martin Niemöller, Leo Petersmann, Rainer Schmid, Tertullian, Reinhard J. Voß, Bernhard Willner, Bernd Winkelmann und Hans Dieter Zepf.

Das Buches enthält insgesamt 46 Beiträge, thematisch gegliedert nach zehn Abteilungen:

  1. Jesus und das Konstantinische Kirchentum
  2. Antimilitaristische, humanistische und laizistische Kritik der Militärseelsorge
  3. Wiederbewaffnung und Neuaufbau des Militärkirchenwesens
  4. Friedenszeugnis ohne staatskirchliche Verflechtung in der DDR – Durchsetzung des westdeutschen Modells
  5. Stimmen aus dem Versöhnungsbund
  6. Sakralisierung des Militärkomplexes
  7. Ökumenische Initiativen zur Abschaffung der staatskirchlichen Militärseelsorge
  8. Stimmen aus dem Kreis der katholischen Friedensbewegung
  9. Wie staatstreu sind die Kirchen in der Friedensfrage?
  10. Beistand für Soldaten, Infrastrukturen des Friedens und Vorbilder einer neuen Freiheit

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„Die Seelen rüsten“. Zur Kritik der staatskirchlichen Militärseelsorge. Herausgegeben von Rainer Schmid, Thomas Nauerth, Matthias-W. Engelke und Peter Bürger. (edition pace 8.) Norderstedt 2019. [ISBN: 9783749468041; Seitenzahl: 456; zahlreiche farbige Abbildungen; Preis 15,99 Euro].

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(Leseprobe mit Inhaltsverzeichnis oben links abrufbar). Mit einer Direktbestellung bei BoD fördern Sie die Friedensbibliothek der edition pace; das Werk ist auch überall vor Ort im Buchhandel bestellbar.