Alte Kameraden erfinden den Ersten Weltkrieg neu – gegen Rote und Russen war’s ein „Freiheitskampf“ mit deutscher Hilfe. Der Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr, verantwortlich für die Auslandseinsätze deutscher Soldaten in Afghanistan, Mali und anderswo, ist dabei.
(von unserem Gastautor Georg Blum)
In Schleswig-Holstein nahe der Kreisstadt Itzehoe gibt es ein merkwürdiges Militärgelände, das Lockstedter Lager: gegründet als Lager für französische Kriegsgefangene 1870/71, dann Ausbildungslager der kaiserlichen deutschen Infanterie, bis 2004 in Teilen genutzt als Heeresflieger-Standort der Bundeswehr. Merkwürdig ist hier vor allem ein jährliches Gedenkritual, zu dem diplomatische und konsularische Repräsentanten sowie höchste finnische und deutsche Militärs anreisen, unter letzteren häufig der jeweilige Leiter der zentralen Infanterieschule in Hammelburg oder der Befehlshaber des Potsdamer Einsatzführungskommandos der Bundeswehr. Ende Februar/ Anfang März begehen sie in der Standortgemeinde Hohenlockstedt den „Finnentag“ – in Erinnerung an eine Episode deutsch-finnischer Militärkooperation, die im Januar 1915, ein halbes Jahr nach Beginn des Ersten Weltkriegs, ihren Ausgang nahm.
Damals reisten nach und nach rund 2000 junge Finnen, zumeist Studenten aus wohlhabenden Familien, als Pfadfinder getarnt in Lockstedt an. Die bürgerliche finnische Nationalbewegung wollte sich mit dem Deutschen Kaiserreich gegen das zaristische Russland verbünden. Die jungen Männer sollten im Lager gedrillt und als „finnische Legion“ den deutschen Truppen an der Ostfront in Estland an die Seite gestellt werden. Im Mai 1916 griff hier ein finnisches Jägerbataillon, geführt von deutschen Offizieren, in die Stellungskämpfe ein. Aber mit den russischen Revolutionen im Februar und im Oktober 1918 kam die Mission bereits zu ihrem Ende. Die Finnen wechselten unter das Kommando der „weißen“ finnischen Bürgerarmee und kämpften gegen die mit den russischen Oktoberrevolutionären marschierende „rote“ finnische Arbeiterarmee. Die deutschen Offiziere folgten ihnen als Söldner oder kämpften mit den deutschen Freikorps im Baltikum und später in Deutschland ebenfalls gegen die Arbeiterbewegung.
Diese nur drei Jahre währende militärische Kooperation zwischen Deutschen und Finnen hat den Anschein einer kleinen militärgeschichtlichen Arabeske. Ihre Wirkungen reichen jedoch bis in die Kriegsführung des Zweiten Weltkriegs. Die „finnische Legion“ und ihre deutschen Offiziere wurden zu einer Schule des „Weißen Terrors“, der sich als besondere antikommunistische Kampfweise im finnischen Bürgerkrieg herausbildete, im deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 erneuerte und als Praxis der Judenvernichtung und Resistance- und Partisanenbekämpfung auf viele der von Deutschland zwischen 1939 und 1945 besetzten Länder ausweitete.
Diese Traditionslinie findet sich prototypisch verkörpert in der Laufbahn des preußisch-deutschen Berufssoldaten Ulrich von Coler. Er wurde als ausbildender Oberleutnant im September 1915 nach Lockstedt kommandiert und führte als Hauptmann mit 38 weiteren deutschen Offizieren eine rund 1.250 Köpfe zählende finnische Legion ins Estländische Kampfgebiet. Schon Anfang März 1918 kam er mit den ersten Heimfahrern nach Finnland. Er wurde Oberst der weißen finnischen Armee bis zu deren Sieg über die revolutionäre finnische Bewegung wenige Monate später. Da nach diesem Ereignis die deutschen Offiziere von den Finnen wieder aus ihrem Heer ausgegliedert wurden und Coler keine Stellung in der 1919 auf 100.000 Mann verkleinerten Deutschen Reichswehr erwarten konnte, wechselte er für mindestens zehn Jahre zu finnischen weißen paramilitärischen Milizen.
1934 kehrte er in das inzwischen nationalsozialistische Deutschland zurück und trat der aufrüstenden und wachsenden Wehrmacht bei. Im Zweiten Weltkrieg erscheint er, nun im Alter von Mitte 50, als Regimentskommandeur im Polenfeldzug 1939, ab Sommer 1940 als leitender Besatzungsoffizier (Feldkommandant) in Nordfrankreich und auf der Krim. Auf der Krim war er mit großer Wahrscheinlichkeit persönlich an Erschießungen von Juden beteiligt. Über sein Gebaren berichteten beteiligte Offiziere in einem Nachkriegsverfahren vor dem Landgericht Düsseldorf ausführlich: Er habe stets das eigene Herrenmenschentum bzw. das Untermenschentum der russischen Bevölkerung betont, habe Untergebene aufgefordert, bei Exekutionen vorher Bilder von den Opfern zu machen, um deren Kümmerlichkeit zu belegen, und unter Schwenken seiner Pistole von deren Gebrauch geprahlt.
Über diesen sozialreaktionären, rassistischen und mörderischen Ideen- und Erfahrungshintergrund der „weißen“ Finnen und Deutschen wird heute in Finnland nach Jahrzehnten des Schweigens sehr offen debattiert. Im militärhistorischen Museum Hohenlockstedts und auf den örtlichen Veranstaltungen erfährt man davon nichts. Generalmajor Jukka Pennanen aus Helsinki beendete seine Rede zum Finnentag 2012 mit den Worten: „Dieser Gedenktag liefert uns ein Vorbild, was einzelne Menschen für Ihre Überzeugung und zur Durchsetzung der Gerechtigkeit bewirken können. Die Werte, die dem Handeln der Jäger zugrunde lagen, haben in den vergangenen nahezu hundert Jahren nichts an Aktualität eingebüßt!“ Der Bürgermeister Hohenlockstedts, Bernhard Diederichsen, spricht von den „finnischen Freiheitskriegen gegen das russische Joch“. Die Homepage des örtlichen Heeresflieger-Traditionsvereins spricht präziser vom „erfolgreichen Freiheitskampf der Finnen gegen den roten Riesen“. Am diesjährigen Finnentag am 2. März 2013 wird Generalleutnant Rainer Glatz, zurzeit Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr, eine der Hauptreden halten.
***Bildquelle: wikipedia Pataljoonan paallystoa.jpg